Mülheim statt Mühlheim

Welt-Geschichte findet nicht statt. Das Ruhrgebiet des Bert Brecht – Eine Hommage zum 50. Todestag

VON STEPHAN D. BOCK

Für F.-E. H.„An der Ruhr liegen die größten kulturpolitischen Aufgaben, die Deutschland zu lösen hat,“ sagt 1926 der Berliner Kritiker Herbert Jhering. Der Satz wird gern zitiert, nicht aber sein Diktum: Theater entwickle sich „nicht mehr in Kunststädten, nur in Arbeitsstädten“, die Zukunft liege folglich an der Ruhr, vorausgesetzt, die Vielzahl Dortmund bis Düsseldorf würde zur Industrieweltstadt. Verständlich also, den „schlafenden Riesen“ in den Ring gegen die Hauptstadt zu rufen! Die „Jungen“ drängten, doch wohin gehen, wenn selbst die Berliner Theater kaum Mut zeigten? Das Ruhrgebiet bot sich da geradezu an. Auch hier kannte man Bürgerkrieg und Inflation, und dazu die absurder kaum denkbare Folge von „Krieg und Erbfeind“: die Ruhr-Besetzung mit dem Ziel einer „Republique Ouvriere“, einem Arbeiter-Staat Rhein-Ruhr imperialer Gnaden.

Kenner deutscher Theater wie kein zweiter, wusste Jhering genau, was er schrieb. 1927 würde Essen den Neuanfang wagen. Und war er nicht selbst Mentor des größten enfant terrible? Bert Brecht, vom Strategem „Ruhrgebiet“ überzeugt, würde alles unternehmen, um auch hier „erster Dramatiker“ zu sein! Kein Zufall also, als Brechts Name 1927 beim Projekt Ruhrepos fällt. Vor allem aber, dass Brecht schon August 1926 ein Groß-Unternehmen begonnen hatte – Brecht addiert mit Ruhrgebiet ergibt als Quersumme Untergang des Egoisten Johann Fatzer, das nach Urfaust, Robert Guiskard und Woyzeck bedeutendste deutsche Fragment. Handlungsort: „Mühlheim an der Ruhr“. Allerdings in einer „hlh“-Schreibung, dass allein ist ein gefundenes Fressen noch heute für jeden Profiler! „Mühlheim“ war gezielter Fingerzeig, keine Marotte, hinabführend (Walter Benjamins „dreihundertjährigem Bürgerkrieg“ folgend) bis zu den Bauernkriegen, vor allem aber zur Vorlagefigur des Johann Fatzer: ins Kölner Mühlheim des Mathias Weber genannt Fetzer. Doch noch 1997, Genosse „Bonker“ ließ grüßen, wurd‘ „Mühlheim“ „editorisch angeglichen“: Duden-Mülheim statt Poeten-„Mühlheim“, und Welt-Geschichte fand nicht stadt!

Denn nichts zeugte sichtbarer von den historischen Schichtungen Brechts als das 1930 nachgerad penetrant gedruckte MüHLHeim. Derart poetisierter „Ruhrort“ war (zu denken an E.A. Poe) der Schlüssel zu Oberfläche wie Tiefe, kurz: „Mühlheim“ signalisierte Gegenwart wie Geschichte. Das einmal begriffen und man will aus dem Lachen nicht mehr heraus: „Bergwerksschichten“ waren für Brecht eine schlichte Metapher.

Ein Blick in die deutsche, will sagen deutsch-deutsche, Literaturgeschichte, und das Lachen hält an. Wenn je Ost zu West vice versa passte, dann bei „Ruhrgebiet und Brecht“. Dass ein Ruhrepos nur an „Provinz“ hatte „scheitern“ können, war ausgemacht hier wie dort. Als 1986 ein Dr. H.H. aus Essen das Zentraldokument an das BBA der DDR schickt, wird das nicht publik gemacht, sondern „bibliothekal sekretiert“. Noch 1991 (wie allerorten in Essen) heißt es: „nichts Neues zum Ruhrepos“. Man vergegenwärtige sich im Blick auf Essen Kulturhauptstadt Europas: 1927 beauftragt die Stadt Essen Kurt Weill, Bert Brecht und den Filmer Carl Koch mit einem Ruhrepos/Essen Dokumentarium, doch noch 2006 gibt es nicht das klitzekleinste Stadt-Archiv- Blatt zu dessen „Scheitern“. Dabei haben sich längst Banken und Konzerne Entsetzlicherem gestellt als diesem: Dass die Eroica der Arbeit, mit der Essen ein Bayreuth der Arbeitswelt werden sollte, an antisemitischer Hetze gescheitert war: gegen die „zwei Juden Brecht und Weil“.

Was wunder, wenn bei dergestalt Gemengelage der Untergang des Egoisten Johann Fatzer ,will sagen „Mühlheim“ und „Ruhrort“, gleich ganz auf der Strecke blieb. 1979, zum Mülheimer Dramatiker-Preis, schrieb Heiner Müller seine „Fatzer-Rede“. Heute ein Zeugnis deutsch-deutschen Betons: wie DDR-Kritik wegen „Eigentumsverhältnissen“ („Wir sind die Beßren!“) über „gewisse Ereignisse“ hinwegsehen zu dürfen glaubte. Etwa: dass Mathias Weber genannt Fetzer, Johann Fatzers „realer Vorgänger“, just in „Mühlheim an der Ruhr“ gefetzt, sich also um „Eigentumsverhältnisse“ nicht geschert hatte. So die legendäre, 1804 „zu Cöln publizierte Actenmäßige Geschichte der Räuberbanden beidseits des Rheins“ (Reprint 1972 im ZA der DDR, 1978 für den BRD-Verlag Fourier). Mathias Weber taugte nicht zum Franzosen- und Judenhasser wie Schinderhannes, er hatte kein „bürgerliches Gelüst“, und er war intelligent. Kein Schloss hielt ihm stand, 600 solln‘s gewesen sein. Nebbich, dass er „gut bekannt“ war mit Abraham Picard, dem größten Räuber jener Zeit. Doch auch der, er war Jude, ist heut‘ „vergessen“. (Wie Brecht ihn gekannt, erzählt die Dreigroschenoper.)

Brechts Untergang-Titel ist fast wörtlich Zitat, das Protokoll (Fetzer, guillotiniert am 19. Februar 1803, hatt‘ es noch „abgenickt“) dokumentiert‘s: „Zur Zeit, wie ich meine Kameraden in Essen wiedertraf, hatten sie weder Kleidung noch Schuh und Strümpfe; als sie mich in ihrer Mitte sahen, frohlockten sie, jeder Raub, den wir unternahmen, gelang, und Geld gab es wieder in Menge. Aber mein Ruhm zog meinen Untergang nach sich.“

Gut zu wissen daher, wer Brechts „erste Quelle“ war: ein „Küchenmädchen“ hatte „Fetzer“ in 100 Folgen à 24 Seiten abonniert! Was nun direkt nach “Ruhrort“ führt: Oberhausen hieß ein Augsburger Arbeitervorort. Ein Küchenmädchen jedoch ist eine andre als Lenins Köchin, die den „Staat regieren“ soll. Ergo blieb auch sie rezeptionell Tiefe: unerkannt bis auf den heutigen Tag.