Ein Meister seines Fachs

ERGEBNIS Bei den Kommunalwahlen hat die Partei von Regierungschef Erdogan noch zugelegt – trotz aller Korruptionsvorwürfe. Über 80 Prozent beteiligten sich an der Wahl. Die Kluft zwischen religiös-konservativer und säkular-liberaler Bevölkerung ist tief

■ Landesweit bekommt die konservative AKP 45 und die stärkste Oppositionspartei CHP (sozialdemokratisch) bei der Kommunalwahl 28 Prozent der Stimmen. Als dritte Partei folgt die ultranationalistische MHP mit 17 Prozent.

■Die kurdische BDP, die sich hauptsächlich auf den Südosten des Landes konzentrierte, erhielt dort hohe Zustimmung von bis zu 60 Prozent, schaffte landesweit aber nur rund 6 Prozent.

■Während die AKP in ihren anatolischen Hochburgen wie Erzerum, Konya, Kayseri und Malatya auf 60 bis 70 Prozent kam, räumte die CHP an der Ägäisküste im Westen ab und erreichte in Izmir über 50 Prozent.

■Erstmals in der türkischen Geschichte wurde in einer kleineren Stadt in der kurdischen Region Tunceli ein kommunistischer TKP-Mann Bürgermeister, in einem Bezirk von Konya schaffte es erstmals eine AKP-Frau mit Kopftuch ins Bürgermeisteramt. Mit Sedef Çakmak errang im Istanbuler Besiktas erstmals eine Homo-Aktivistin ein Mandat im Bezirksparlament. (jg)

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Es war eine gespenstische Szene um kurz vor Mitternacht. Sechs Stunden nach Schließung der Wahllokale trat Recep Tayyip Erdogan auf den Balkon seines Parteihauptquartiers in Ankara, hoch über der Menge seiner Anhänger, die sich auf dem Platz vor dem Gebäude drängten. Neben dem Premierminister stand sein – in der Schmiergeldaffäre, die seit Mitte Dezember die politische Agenda der Türkei bestimmt – schwer beschuldigter Sohn. Mit auf dem Balkon waren aber auch andere der Korruption beschuldigte Politiker.

Dann donnerte Erdogan los: „Die verbrecherische Politik der Denunziation mit illegalen Telefonmitschnitten hat verloren“, schrie er seinen Leuten zu, die mit Allahu-Akbar-Rufen antworteten. „Die Verräter“, kündigte er an, „werden wir bis in ihre Höhlen verfolgen.“ Viele seien ja schon geflohen, der Rest solle sich besser auch aus dem Staub machen.

Nach drei Monaten heftigster Schlammschlachten, in deren Verlauf Erdogan sogar die Internetdienste Twitter und Youtube sperren ließ, weil sie Korruptionsvorwürfe und für den Regierungschef peinliche Mitschnitte veröffentlicht hatten, ließ Erdogan jetzt seiner Wut auf den geschlagenen Gegner freien Lauf.

Es ist an ihm abgeprallt

„Ohrfeige für die schmutzige Allianz“ und „Wichtigster Sieg der Geschichte“ titelten am Tag nach der Wahl die regierungsnahen Zeitungen. Erdogan erzielte 45 Prozent aller Stimmen im Landesdurchschnitt und konnte sich damit gegenüber den Kommunalwahlen von 2009 noch einmal um fast 7 Prozentpunkte steigern.

Die Korruptionsvorwürfe, die Missachtung der Bürgerrechte politischer Gegner und die von ihm zu verantwortenden tödlichen Schüsse auf Demonstranten: Das alles prallte nicht nur an ihm ab – es hat ihm sogar noch genutzt. In den Augen seiner Anhänger war Erdogan wieder einmal nicht der Täter. Stattdessen sehen sie ihn als Opfer sinistrer Verschwörungen gegen ihn und selbstverständlich auch gegen die Türkei. Erdogan ist ein Meister in dem Fach, die Opferrolle für sich zu reklamieren.

War es in den Jahren von 2003 bis 2010 das Militär, das ihn bedrohte, sind es jetzt seine ehemaligen Freunde aus der islamischen Gülen-Sekte, die ihn mittels „fingierter Korruptionsvorwürfen“ vernichten wollten, heißt es nun. Erdogans Anhänger wollen daran glauben, obwohl die Vorwürfe so evident sind, dass man sie kaum bestreiten kann.

Der Regierungschef bestreitet sie gar nicht erst. Er stellt sie vielmehr als Teil eines von außen gelenkten Putschplans dar. Und schon feiern seine Anhänger ihn als den Retter des Landes.

Dabei stört es ihn nicht, dass ihn die andere Hälfte der Türkei – also jene 55 Prozent, die ihn nicht gewählt haben – nicht nur für einen politischen Gegner, sondern für eine echte Gefahr für die Demokratie und die Zukunft des Landes halten.

Polarisierung ist schon immer die Taktik Erdogans gewesen, mittlerweile hat er die Gräben, die er selbst geschaufelt hat, noch mit Beton ausgegossen. Man sieht das daran, dass er in bestimmten Gebieten, die zum Kernland der AKP gehören, extrem hohe Zustimmungsraten hat und in anderen Regionen die Ablehnung ähnlich stark ist.

Im säkularen Westen des Landes, in den Provinzen entlang der Ägäisküste, hat Erdogan keine Chance. Die Ägäismetropole ging mit über 50 Prozent an die oppositionelle kemalistisch-sozialdemokratische CHP – trotz Wahlfälschungsversuchen. So wurde am Vorabend der Wahl in Izmir ein Lkw voller zugunsten der AKP gefälschter Wahlzettel entdeckt, die offenbar am Sonntagabend in die Urnen geschleust werden sollten. Dagegen bekommt Erdogan in Zentral- und Nordostanatolien mehr als 60 Prozent, CHP-Wähler oder Wähler der Kurdenpartei BDP dürfen sich in Städten wie Erzerum oder Kayseri kaum noch öffentlich zu erkennen geben, wenn ihnen ihre Gesundheit lieb ist. Diese Spaltung gibt es schon länger, aber sie hat sich durch das Auftreten Erdogans seit dem letzten Sommer verstärkt.

Nach 12 Jahren hat sich die Bevölkerung entmischt, man hat sich in sein eigenes Viertel zurückgezogen

Opposition einiger

Neu nach dieser Kommunalwahl ist, dass sich in den entscheidenden Metropolen wie Istanbul und Ankara die Stimmen seiner Gegner nicht mehr breit streuen, sondern jetzt überwiegend bei der CHP gelandet sind. Zwar hat die Republikanische Volkspartei landesweit nur knapp 29 Prozent bekommen, doch Istanbul und Ankara sind quasi halbiert. In Ankara fehlten der CHP nur ein paar hundert Stimmen, und wenn man in Istanbul zu den 40 Prozent, die Mustafa Sarigül für die CHP holte, die Stimmen der HDP, eines Bündnisses linker und kurdischer Gruppen, dazuzählt, gibt es auch in der Bosporusmetropole ein Patt.

Und wie in einem Spiegelbild des Landes zeigt sich die Segregation zwischen religiös-konservativer Bevölkerung und säkular liberalem Lager deutlich an verschiedenen Stadtteilen.

Es gibt Bezirke wie Kadiköy und Sisli, in denen Millionen Menschen leben und wo die CHP 70 Prozent und mehr bekommen hat, und andere Viertel, in denen die AKP ähnlich dominant ist. Nach zwölf Jahren Erdogan hat sich die Bevölkerung entmischt, man hat sich in sein eigenes Viertel zurückgezogen.

Schon lange nicht mehr hat es bei einer Wahl ein solches Engagement gegeben wie bei dieser Kommunalwahl. Außer dass über 80 Prozent gewählt haben, gab es noch Hunderttausende Wahlbeobachter, die in den Wahllokalen aufpassten, dass es nicht zum Betrug kommt. Tausende Beschwerden sind anhängig, doch außer vielleicht in Ankara werden sie wohl am Wahlausgang nichts mehr ändern.