Keine Diskussion, keine Misstöne

Schon als 13-Jähriger killte er literarisch die Kaschuben, doch man kann ihm nichts nachweisen, denn das Manuskript des Jugendwerks ist verschollen: Günter Grass las im Sendesaal von Radio Bremen aus „Beim Häuten der Zwiebel“ und wickelte ausnahmslos alle ein

Manchmal tönt das, was verschwiegen wird, lauter als alle gesagten Worte. Bei der Lesung von Günter Grass am Samstag, die von Radio Bremen aufgenommen wurde, wurde der Skandal um seine kürzlich eingeräumte Mitgliedschaft bei der Waffen-SS so offensichtlich ausgeblendet, dass man umso begieriger auf verräterische Formulierungen lauschte.

Statt wie üblich in den eigenen Fernsehstudios zu drehen, hatte der Sender die Kameras im Sendesaal an der Bürgermeister-Spitta-Allee aufgebaut. Dort konnte Günter Grass besonders brillieren, ist er doch ein überzeugender Rezitator seiner eigenen Werke. Marcel Reich-Ranicki etwa hatte einmal nach der Lesung Grass’ aus einem noch unveröffentlichten Werk selbiges in den höchsten Tönen gelobt, nur um es dann, als es als Buch vorlag, mit der gleichen Leidenschaft zu verreißen.

Dies konnte man an diesem Abend gut nachvollziehen, denn Grass las derart souverän aus seinem jüngsten Werk „Beim Häuten der Zwiebel“, dass er auch den Skeptiker mühelos einwickelte. Grass war zudem so geschickt, nicht Ausschnitte zu präsentieren, sondern eine gute Stunde lang das gesamte zweite Kapitel zu lesen. So entstanden keine narrativen Brüche; leichtfüßig sog er die Zuhörer in den narrativen Fluss seiner Erinnerungen.

Grass erzählt in dem Buch von seinem jüngeren Ich wie von einem Fremden und thematisiert dabei immer wieder den widersprüchlichen Prozess des Erinnerns. Er hat dafür zwei starke Metaphern gefunden: die Zwiebel und den Bernstein, und beide deutet er in dem an diesem Abend gelesenen Kapitel. Die Zwiebel steht für den bewussten Akt des Erinnerns, bei dem man Hautschicht für Hautschicht von der eigenen Vergangenheit abschält, und dabei auf seltsame Membranen stößt.

Das Bernstein steht dagegen für das unwillkürliche Erinnern: die Assoziation, die durch einen Geruch, eine Landschaft, eine Musik oder durch einen Geschmack freigesetzt wird. Bei diesen Erinnerungen können wir uns selbst nicht belügen, denn sie sind genau wie die eingeschlossene Mücke im Bernstein Teile der Vergangenheit.

Grass erzählte in Bremen vom Lesehunger seines früheren Ichs, von den historischen Romanen, die er verschlang und heute als seine „Flucht in die Vergangenheit“ versteht. Auch von seinem ersten literarischen Werk berichtet Grass, von dieser Geschichte über die Kaschuben im 13. Jahrhundert, die er als 13-Jähriger so blutrünstig geschrieben hatte, dass alle Protagonisten am Ende des ersten Kapitels getötet worden waren. Dies Manuskript fand sich bisher in keinem Archiv. Andernfalls hätte man den Autor aufgrund seines Frühwerks als „angebräunt“ abstempeln können.

Auf solche „Stellen“ lauerte das Publikum förmlich bei der Bremer Lesung. Vom „eingeimpften Wahn“ seiner Begeisterung für Hitlerdeutschland las Grass, davon, dass „kein Zweifel den Glauben kränkte“ und dass er die „Häme launischer Kritiker“ habe vermeiden wollen. Die Lesung lud zu solch einer Spurensuche ein und war dadurch vielleicht sogar spannender, als es eine nachfolgende Diskussion gewesen wäre. Diese nämlich bleib aus; stattdessen signierte der Nobelpreisträger zum Teil ganze Bücherstapel, und immerhin wusste man nun, dass dies dem jungen Grass auch gefallen hätte. Denn er hatte ja „berühmt und ein Künstler“ werden wollen. Wilfried Hippen

Am 3. Oktober liest Günter Grass erneut im Norden: um 19.30 Uhr im Hamburger Grand Elysee-Hotel