Auf Wohnungssuche (6): Karl-Marx-Straße
Die Adresse hätte mir gefallen. Karl-Marx-Straße, das hätte bestimmt auch meinen Eltern noch einen leichten Schock versetzen können. Bestimmt auch einen größeren als damals, als sie mit mir in den Grünen Weg ziehen wollten und der SPD-Ortsverein es geschafft hatte, die Straße in der ansonsten katholisch besetzten Gegend, mit der Kolpingsiedlung und der Kardinal-von-Galen-Straße, in Gustav-Heinemann-Straße umzubenennen.
Karl-Marx-Straße also. Dummerweise zog dieser Straßenname nicht nur zahlreiche Touristen, sondern auch Immigranten an. Und natürlich die anderen jungen Menschen, die vom angesagten Neukölln gelesen hatten. Eine Horde junger Leute sammelte sich also vor den Türen dieser guten Adresse in der Nähe des Hermannplatzes, und ich hob merklich den Altersdurchschnitt. Der Makler war allerdings auch nicht jünger, besaß aber den Charme eines Sozialwissenschaftslehrkörpers. Er setzte sich nach einem „Guten Morgen“ auch gleich in die Küche und sammelte seine Wohnungspfadfinderkinder um sich. Er händigte Zettel aus und beantwortete Fragen. Ja, die Unterlagen lassen sich auch per Post schicken. Ja, Schufa. Ja, Schwimmabzeichen.
Die Wohnung war perfekt. Sie lag im Quergebäude, sonnenlichtstark, mit Blick auf eine Tischtennisplatte im Hof. Renoviert, sauber, gut geschnitten, mit Badewanne und Zentralheizung. Balkon gab es auch. Teuer war sie ebenfalls nicht. Die MitbewerberInnen schritten durch die Wohnung wie durch ein Museum. Andächtig und leise.
Aber nur eine oder einer von uns sollte sie bekommen. Und die Entscheidungsinstanz saß ganz woanders und richtete über Unterlagen. Es war fast wie im Sozialismus. Ob dem alten Kalle das gefallen hätte, weiß ich nicht. Ich jedenfalls ging trotz aller linkskatholischen Hintergründe wieder einmal leer aus.
RENÉ HAMANN
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen