Häuter des Heilbutts

Indische Woche der Wahrheit: Günter Grass und das gastliche Kalkutta in Rottweil

„Kalkutta liegt am Ganges, Paris liegt an der Seine, doch dass ich so verliebt bin, das liegt an Madeleine.“ Günter Grass, wie man ihn kennt und schätzt: gebundene Rede in höchster Vollendung, fantastische Geografiekenntnisse und immer ein Blick aufs schöne Geschlecht. „Die schwarzen Kulleraugen, das ganze Drum und Dran …“

Die Dämme sind offensichtlich gebrochen seit Günter Grass’ Waffen-SS-Geständnis. Seit der Überwindung seiner inneren Schamschwelle gibt es für den Häuter der Zwiebel seines Lebens kein Halten mehr. Schicht um Schicht verkrusteter Lebenslügen wird abgetragen. Nun, rechtzeitig zur Buchmesse mit dem Gastland Indien, zieht der Nobelpreisträger weitere Register seiner Bekennerorgel.

Kalkutta heißt die Stadt, die für Grass zu einem der wichtigsten Trans- und Inspirationsorte neben Danzig und Berlin wurde. Angeblich fast ein halbes Jahr lebte er einst in der bengalischen Metropole, die er in seiner unnachahmlich barocken Diktion „Scheißhaufen Gottes“ genannt hat. Die Zeichnungen und Texte, die er damals im Band „Zunge zeigen“ veröffentlichte, legten den erhobenen Zeigefinger in die Wunde des 13-Millionen-Molochs. Viele Bengalen waren entsetzt über den finsteren Spiegel, den der moralinsaure Dichter ihnen seinerzeit vorhielt.

Die Bombe, die Grass nun medienwirksam zur Buchmesse hochgehen lässt: Er war nie in Indien. Sein „Kalkutta“ liegt am Neckar, genauer gesagt in Rottweil, und es ist ein indisches Spezialitätenrestaurant, in das es ihn auf einer seiner Wahltrommelreisen in den Siebzigern verschlagen hat und dem er in den folgenden Jahren zum Leidwesen von Wirt Rabindranath Rameswamy immer wieder einen Besuch abstattete. Der erinnert sich noch gut an den seltsamen Gast: „Anfangs war das ja noch ganz lustig, aber als Grass sich im August 1986 für geschlagene fünf Monate bei uns breitmachte, da war die Grenze zur Unerträglichkeit endgültig überschritten. Ständig bestellte er Butt, verlangte nach einem Krebsgang oder meinte, in der Küche eine Rättin entdeckt zu haben. Als er dann eines Tages von mir auch noch verlangte, ich solle ihm die Zunge zeigen, habe ich ihn hochkant rausgeworfen.“

Wie Grass nun gesteht, rächte er sich, indem er sein „Kalkutta“ in den schwärzesten Farben auspinselte. Er raunte von den Gedärmen der Stadt, von stinkender Pisse, von Müllhaufen, über die Kalk gestreut wird. Von Hütten aus Planen, Wellblech und Bambus, verzweifelten Parasiten am Wirtstier Modernisierung. Und das im kehrwochengepflegten Schwabenland! Eindrücklich schwadronierte er vom stechenden Gestank der Sumpfkloake über dem aufgepfählten Bretterbudengewirr, von den Fliegen, den Ratten. Ein fahles Licht fällt heute auf diese Formulierungen über eine bengalische Unterwelt, die Grass nie gesehen hat.

Heute schämt Grass sich über seine damalige Täuschung der Öffentlichkeit, bemüht sich um Wiedergutmachung. Zwar habe ihn die Tatsache, dass auch bei „seinem“ Inder statt von Tellern immer aus Elefantenfüßen gegessen wurde, anfangs irritiert. „Aber das Eichhörnchen Tikka Masala im ‚Kalkutta‘ ist trotzdem erste Sahne“, schwärmt der knorrige Kaschube, wenn man ihn nach positiven Eindrücken aus dieser Zeit befragt.

Je mehr sich der schnauzbärtige Vergangenheitsbewältiger seiner eigenen Vergangenheit stellt, desto mehr sieht er sich offenbar imstande, endlich die Bücher zu schreiben, die er schon vor Jahren hätte schreiben sollen, sich aber damals nicht traute. Zu stark war der Druck der verdrängten, bitteren Wahrheit. Zum Beispiel „Der Butt“ aus dem Jahr 1977, diese etwas zähe Geschichte über einen sprechenden Plattfisch, deren Rohfassung er im „Kalkutta“ auf Bierdeckeln notierte.

In der Neufassung des Erfolgromans mutiert nun „Der Heilbutt“, so der Titel des Updates, zur fischigen Metapher des Führerprinzips. Der ständig quasselnde Edelfisch ist der vielbejubelte Anführer seines Schwarms, der ihm die Flossen zum deutschen Gruß entgegenreckt. Als jener Heilbutt drei Kritikern in die Hände fällt, stellen sie ihn in einem Mainzer Fernsehstudio vor ein literarisches Tribunal. Die Verhandlung verwandelt den eloquenten Verfechter des Tausendjährigen Reiches in einen Anwalt der „Heilbuttsache“. Schon während des Tribunals fällt es ihm wie Schuppen von den Flossen, dass er seine Anhänger in grob fahrlässiger Weise in die Irre geführt hat. In seinem Schlussplädoyer rät er der Weltöffentlichkeit, überall in der Welt buttistische Klöster zu gründen. So, nur so, könne die verlernte Fischsolidarität wieder geübt und endlich die Gleichberechtigung aller Fische erreicht werden, ohne den Lebensraum im Nassen nennenswert erweitern zu müssen.

Samy Vanketeswar, Kellner im „Kalkutta“, hält nicht viel von den literarischen Häutungen des Dichterfürsten. Für ihn ist Grass ein mittlerweile leicht ranziger Danziger, der jede sich bietende Gelegenheit nützt, um über das Nord-Süd-Gefälle zu brabbeln. „Der Knabe nervte schon damals“, schmunzelt der glutäugige Bengale. „Das einzig Gute an ihm war der ständige Pfeifenqualm. Da brauchten wir zumindest keine Räucherstäbchen.“

RÜDIGER KIND