Billigflug ins Ministerium

AUS BONN UND BERLIN JOHANNES GERNERT

Beispielsweise das Gesundheitsministerium. Die Unterabteilung 21 hat ihren Sitz in Bonn. Die Unterabteilung 23, „Pflegesicherung“, ist geteilt. Die Referate 231, 232 und 234 sitzen in Berlin, das Referat 233 sitzt in Berlin und Bonn. Der Leiter der Unterabteilung 23 hat seinen Sitz deshalb zwischen Berlin und Bonn, Reihe 11, Flug HLX3181. Noch 38 Kilometer bis zum Flughafen Köln/Bonn. Es ist Freitagmorgen, 7.46 Uhr.

Matthias von Schwanenflügel klappt das Tischchen vom Vordersitz und legt eine beige Mappe mit der Aufschrift „BMG“ darauf. Er zieht einen Stapel E-Mails, Faxe und Folien daraus hervor. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund lädt zu einer Tagung: „Älter werden in Deutschland“. Matthias von Schwanenflügel macht einen Kuli-Kringel um das Datum. Noch 8 Kilometer. Die Stewardess wünscht ein angenehmes Wochenende: Man freue sich über Verbesserungsvorschläge. Von Schwanenflügel packt die Mappe wieder ein und klappt das Tischchen hoch. „Die könnten den Kaffee billiger machen“, sagt er.

Der Unterabteilungsleiter „Pflegesicherung“, Dr. Matthias von Schwanenflügel, ist eine Schnittstelle. Der Ministerialrat hält seine Unterabteilung zusammen. Die drei Referate in Bonn, das eine Referat in Berlin. Die 25 Bonner Mitarbeiter und die 5 Berliner. Er schafft, was E-Mails und Konferenzen am Telefon und vor Videoschirmen nicht leisten können: persönlichen Kontakt. Er hat deshalb ein Büro in Bonn und eines in Berlin – zwei Vorzimmer, zwei Sekretärinnen. Meist verbringt er zwei Tage der Woche in Bonn und drei in Berlin. Manchmal sticht er sich an der Pforte in Bonn ein und in Berlin wieder aus. Oder andersherum. Heute arbeitet er den ganzen Tag in Bonn.

Ein schwarzer Mercedes der Fahrbereitschaft bringt ihn vom Flughafen mitten ins Gewerbegebiet Endenich, ins Ministerium. Im dritten Stock, Haus D, Raum D 346, steht ein Teller mit drei Mini-Muffins auf dem Schreibtisch. Den hat Frau Wolf für ihn dorthin gestellt – die Bonner Sekretärin. Frau Wolf war noch nie in der Hauptstadt und kennt Frau Lüwa, die Berliner Sekretärin, nur vom Telefon. Seinen elektronischen Kalender verwalten sie zusammen. Zurzeit ist Frau Lüwa krank, da kann Frau Wolf vom Bonner Vorzimmer aus direkt nach Berlin durchstellen. Der Chef nimmt sich einen Muffin: „Das ist aber nett“, sagt er.

Neben dem Muffin-Teller liegt ein gelber Neonmarker auf dem Schreibtisch, an der Ecke steht ein Computer, ansonsten ist der Tisch leer. Das Grau der Tür ist etwas heller als das Grau des Türschilds, das sich wiederum leicht vom Grau der Schränke, Tische und Stühle unterscheidet. Es sieht aus, als wäre hier gestern jemand in Rente gegangen. Matthias von Schwanenflügel packt drei Papierstapel auf die graue Schreibtischunterlage. Dann muss er los – Kontakt mit Berlin aufnehmen.

Im Videokonferenzraum wartet um neun Uhr schon der stellvertretende Referatsleiter „Pflegemodelle“ Werner Wobbe. Die anderen kommen nach und nach. Sie setzen sich im Halbkreis vor den blauen Loewe-Fernseher, auf den gerade ein leerer Tisch übertragen wird. Der Tisch steht in Berlin. Vom Fernseher her knackst es. Dr. Berringer erscheint. Er setzt sich an den rechten unteren Bildschirmrand. Es ist jetzt ein leerer Tisch zu sehen und der Kopf von Dr. Berringer. „Also, das geht so nicht, Herr Berringer“, sagt von Schwanenflügel. Berringer justiert die Kamera. Gestern saßen die beiden noch zusammen im Berliner Büro, Raum 350. Im Ministeriumsbau mit viel Glas und viel Licht, ein Büro mit hellen Möbeln. An der Wand Bilder, die von Schwanenflügels Sohn gemalt hat – der ist neun.

Von Bonn aus teilt Matthias von Schwanenflügel dem in Berlin stationierten Berringer nun mit, dass der Deutsche Städte- und Gemeindebund am 14. September eine Fachtagung veranstaltet, „Älter werden in Deutschland“. „Es wäre gut, wenn da jemand von uns hingeht“, sagt er. Die anderen schreiben plötzlich alle konzentriert. Auch der zugeschaltete Berringer, auf dem Bildschirm, schreibt. Es knarzt und raschelt deswegen sehr hörbar. Nachdem von Schwanenflügel einige Mitarbeiter persönlich angesprochen hat, ist eine Referentin bereit, zur Tagung zu gehen. Um 9.12 Uhr beginnt Magnus Kuhn seinen Vortrag zur finanziellen Situation der Pflegeversicherung.

Kuhn gehört nicht zur Unterabteilung „Pflegesicherung“, sondern zur Abteilung L, L wie Leitung. Abteilung L vereinigt so ziemlich alles, was politisch wichtig ist. Grundsatzfragen, Büro der Ministerin, Pressestelle. Die Abteilung L sitzt deshalb fast komplett in Berlin. Bis auf einen kleinen Rest, dem Magnus Kuhn angehört. Kuhn ist Statistiker, kleiner Mann, braune Krawatte mit Silberstreifen, Aktenberge auf dem Schreibtisch. In Berlin wird geregelt, in Bonn wird gerechnet. Wenn bald die Pflegeversicherung reformiert wird, findet Kuhn heraus, was das kosten könnte. „Ich sach ma“, sagt Magnus Kuhn, „hier sitzt die Ebene, die im Detail die Sachen prüft.“ Zahl der Pflegebedürftigen, Leistungen, Einnahmen, Ausgaben. Was Kuhn errechnet, meldet er von Schwanenflügel und anderen Unterabteilungsleitern, die bringen es nach Berlin. Alle zwei Wochen fliegt Magnus Kuhn selbst von der Bundesstadt in die Bundeshauptstadt. Es gibt im zweiten Dienstsitz Pendlerbüros für Leute wie ihn. Wenn er sich in Berlin an einem Computer einloggt, erscheinen dieselben Symbole auf dem Desktop wie in Bonn.

Die Bonn-Berlin-Verbindung funktioniert, sagt Matthias von Schwanenflügel. Wegen der Konferenzen, per Video, per Telefon. Weil Menschen wie er hin- und herfliegen, weil sie die beiden 600 Kilometer entfernten Dienstsitze zusammenhalten.

Die Akten der Unterabteilung 23 hängen in Sperrholzschränken in Bonn. Wenn dort etwas geändert wird, bekommt von Schwanenflügel es zum Abzeichnen nach Berlin geschickt. Dann wird die abgezeichnete Akte wieder zurückgeflogen. Wenn es schnell gehen muss, zu Reformzeiten etwa, gibt es auch andere Wege. „Da wird rumgefaxt wie bekloppt“, sagt von Schwanenflügel. Er verbessert also einen Briefentwurf für die Ministerin, mit brauner Tinte, das ist die Farbe der Unterabteilungsleiter. Weil es schnell gehen muss, schickt er das Schreiben nicht im Original nach Bonn, sondern er faxt es. „Dann geistern zwei Vorgänge herum“, sagt er. Der Originalvorgang in Berlin, die Kopie in Bonn. „Da könnten am Ende zwei Briefentwürfe im Ministerbüro landen.“

Bevor er vor einigen Monaten Unterabteilungsleiter wurde, hat der promovierte Jurist das Verbindungs- und Koordinierungsreferat geleitet, in der Abteilung L. Er hat sich viel damit beschäftigt, wann genau man einen Vorgang am sinnvollsten von Bonn nach Berlin schickt.

Am Mittag geht von Schwanenflügel mit den anderen über den Bonner Ministeriumshof rüber zur Telekom-Kantine. Das Gesundheitsministerium residiert neben Motorradladen und Autosattlerei, zwischen Müllverbrennungsanlage und Chemiewerk. Am Abend stehen hier Prostituierte am Straßenrand. In Berlin stehen die Prostituierten eine Querstraße weiter. Aber nebenan ist der Friedrichstadtpalast, der Quatsch-Comedy-Club, das Kulturzentrum Tacheles. In Berlin geht von Schwanenflügel in Restaurants um die Ecke. Restaurants gibt es hier im Gewerbegebiet Endenich gar nicht.

Beim Mittagessen in der Telekom-Kantine reden sie über die Umzugsdebatte. Viele müssten eine ganz neue familiäre Infrastruktur aufbauen, wenn alles nach Berlin ginge, fürchtet ein Referatsleiter. Matthias von Schwanenflügel löffelt Fruchtquark. Was die Arbeitseffizienz anbelangt, denkt er, ist diese Pendelei, das Hin- und Herschicken der Akten, ziemlich unsinnig. Umzüge hält er für zumutbar. Er ist selbst von Bonn nach Berlin gezogen. Man hat dafür doch Privilegien als Beamter, Sicherheit. Als der Referatsleiter sagt, die Häuser seien in Berlin ja auch viel teurer, schüttelt von Schwanenflügel den Kopf. „Nä“, sagt er. „Das stimmt ja wohl nich’.“ Auch deshalb fliegt er nach Bonn: Mittagessen mit den Kollegen. Das lässt sich nicht am Telefon erledigen und auch nicht vor dem Videoschirm.

Er mag Bonn. Den Rhein. Er hat neben der Pforte ein silbernes Hercules-Herrenrad stehen, mit dem fährt er manchmal abends am Fluss entlang. Oder die zehn Minuten zum Hotel Mozart, wenn er für zwei Tage bleibt. 72 Euro die Nacht.

Am Nachmittag geht Werner Wobbe vor dem Raum D 346 auf und ab, von Schwanenflügel wollte ihn sprechen, er ist gerade nicht im Büro. Wobbe hat das Zimmer nebenan. Er sieht am Horizont begrünte Hügel, Bonner Vorgebirge, und direkt vor sich ein Solarzellendach. „Sehen Sie die Taube“, sagt er, „die sitzt da seit zwei Monaten.“ Wobbe ist der Dienstälteste hier, hat einen Glatzenansatz, Jeans an, braune Lederschuhe. „Sehen Sie auch den weißen Fleck“, sagt er. Da ist eine andere Taube gestorben. „Seitdem trauert die hier jeden Tag“, sagt Wobbe.

Werner Wobbe kümmert sich um neue Pflegemodelle. Er kennt sich da aus, bis ins kleinste Detail. Schwersthirnverletzte etwa, oft sind das Motorradfahrer, wie kann man die besser behandeln? Es gibt jetzt allerdings keine Förderung mehr, also gibt es keine neuen Modelle und die alten laufen langsam aus. Wenn die letzten ausgelaufen sind, dürften die Leute, die sich um Pflegemodelle kümmern, in Rente sein. Die meisten sind um die sechzig. Auch Werner Wobbe fliegt nach Berlin – etwa einmal im Jahr.

In der Umzugsdebatte ist die Rede davon, dass in Bonn die Abgehängten seien, die Unmotivierten. Aber vielleicht liegt das gar nicht so sehr am Standort. Wahrscheinlich würde sich für die auslaufenden Pflegemodelle auch keiner interessieren, wenn Wobbe seinen Schreibtisch in Berlin direkt neben Ulla Schmidt hätte. Und Magnus Kuhns Zahlen zur Pflegeversicherung braucht die Ministerin einfach. Da könnte er seine Excel-Tabellen in der Mongolei zusammenrechnen.

Von Schwanenflügel ist zurück. Wobbe geht schnell zu ihm rein. Es ist drei. Es ist nicht mehr viel Zeit. Um vier kommt die Fahrbereitschaft und bringt den Unterabteilungsleiter zum Flughafen. Heute ist Freitag. Da ist früher Schluss. Da ist er schon um sieben zu Hause.