Mit Ziegelstein auf dem Klodeckel

Mäuschen, Ratte oder Paranoia? Wenn zu Hause die Stromkabel anfangen zu huschen, morgens Späne im Flur liegen und der objektive Forscherblick panisch davonrennt, helfen Gilles Deleuze und YouTube. Geschichte einer unheimlichen Begegnung

VON DETLEF KUHLBRODT

Alles hatte vor einer Woche begonnen. Ich hatte am Schreibtisch gesessen, als sich plötzlich am Boden, am Rande meines Gesichtsfelds, etwas bewegte. Zwischen Kabeln und Mehrfachsteckdosen sah ich ihren Schwanz vorbeihuschen, und in dem Moment, als ich meinen Blick auf scharf stellte, war nichts mehr da. Leicht schockiert war ich mir nicht sicher, ob das, was ich gesehen hatte, der Wirklichkeit entsprach. Möglicherweise hatte ich eins der Kabel auf dem Boden für den Schwanz eines Tieres gehalten und das, was ich für ihren Körper gehalten hatte, war vielleicht nur eine Dreiersteckdose, die sich bewegt hatte, weil’s auf dem Boden gerade windig gewesen war.

So ganz konnte ich an diesem Tag meiner Wahrnehmung ohnehin nicht trauen: Tags zuvor hatte ich Geburtstag gehabt. Ich fühlte mich immer noch benebelt. Zu angegriffen, um der Sache auf den Grund gehen zu wollen.

In den folgenden Tagen mehrten sich die Zeichen, dass ich nicht mehr alleine wohnte. Am Morgen war im Bad eine Zeitung zerschnipselt, im Klo war kein Wasser mehr, und am Fuße des Türrahmens lagen viele kleine Späne. Nun ja – da hatte jemand Zeitungspapier geschnipselt, während er gelangweilt auf dem Klo saß. Aber hatte ich denn überhaupt Besuch gehabt? – Egal! Und die Späne? – Nun ja. Das Haus ist ja nun auch schon 110 Jahre alt, und niemand weiß, wie die seltsamen Stoffwechselprozesse in so einem alten Ding funktionieren beziehungsweise eben nicht funktionieren und in ihrem Nichtfunktionieren dann irgendwie doch wieder funktionieren.

Junge Häuser fressen alles weg und verdauen prima; bei alten Häusern funktioniert das nicht mehr ganz so gut.

Interessiert beobachtete ein Teil von mir den anderen bei der Verdrängung. Das eine Ich vermutete, dass eine Hausmaus in meine Wohnung gezogen war: Sie hatte am Türrahmen der Badezimmertür geknabbert, das Wasser im Klo ausgetrunken, von den Zeitungen gegessen. Das andere Ich wollte das alles nicht wahrhaben. Was nicht sein durfte, konnte auch nicht sein. Oder nur ein bisschen. Dies Bisschen wurde mehr, als ich Versammlungen kleiner schwarzer Mäusekötel an verschiedenen Stellen der Wohnung fand. „Interessant, interessant“, dachte ein Teil von mir, während der andere nervös Einschlafzeiten nach hinten verschob und abends die Alkoholdosen erhöhte.

Ich schlief wie ein Hund

Manchmal, wenn ich nicht schlafen konnte gegen Morgen, dachte ich am Schreibtisch des Arbeitszimmers über die Organisation meines sogenannten Schlafzimmers nach. Alles schien unvernünftig. So wie die Matratze auf dem Boden lag, machte sie das Zimmer kaputt. Ich schlief ja wie ein Hund in der äußersten Ecke der Wohnung. Ich kam mir verwahrlost vor. Verwahrlosung ist ein Zustand nicht des Mangels, sondern zu großer Fülle, die man nicht geordnet kriegt. Der Messie leidet nicht daran, dass er zu wenig, sondern dass er zu viel hat und diese Vielheiten nicht mehr ordnen kann.

Gilles Deleuze hatte Ratten prima gefunden. Ihnen eigne die Gabe der Kontemplation („Die Falte“), ihre Meute sei ein Rhizom, und auch ihr Bau „ist in all seinen Funktionen rhizomorph“. In „Tausend Plateaus“ (1992, Merve, S. 16) gibt es den schönen, gern zitierten Satz: „Wenn Ratten übereinander hinweghuschen.“ Wenn Ratten übereinander hinweghuschen, rennt der objektivierende Forscherblick davon.

Ich spürte die Anwesenheit des Tieres, das ich nur als Huschen zwischen Kabeln und Steckdosen gesehen hatte. Seine Anwesenheit putschte mich auf. Es hatte Angst, war hungrig und fühlte sich sicher auch allein. Immer später ging ich ins Bett.

Und als ich im Bett war, schlief ich nur sehr leicht, und irgendwann hatte mich etwas aufgeweckt. Ich drehte mich hin und her, machte halbherzige Versuche, wieder einzuschlafen. Hörte irgendwann ein Tippsen und Tapsen in der Küche, im Flur. Ich versuchte mich auf die Geräusche zu konzentrieren und meinte, die Gegenwart der Maus genau zu spüren. Die Füße eines Einbrechers hätten mehr Krach gemacht.

Ich überlegte: Hatte ich die Badezimmertür zugemacht? Ich horchte in das Hinterhof- und Wohnungsdunkel. Leider waren meine Zigaretten schon wieder alle. Nur halbherzig versuchte ich wieder einzuschlafen. Dann wieder das Tapsen und Tippeln kleiner Pfoten. Ein Glas kippte um in der Küche. Etwas raschelte. Ich stand auf. Leise zog ich mich an. Unangezogen hätte ich mich nicht auf den Flur getraut. Auch wäre es unhöflich gewesen, meinem neuen Mitbewohner – ach was!

Vorsichtig öffnete ich die Tür einen kleinen Spalt und schaute auf den Flur. Irgendwo dahinten hielt auch die Maus den Atem an. Vielleicht hatte sie sich bewegt, oder waren es doch die Stäbchen dieses chinesischen Vorhangs zwischen meinen beiden Zimmern, die gegeneinanderschlugen, weil die Fenster auf waren? Hatte ich mich nicht doch geirrt, und in Wirklichkeit war da gar niemand? Entschlossen ging ich in den Flur und schaute überall ein bisschen. Dann verließ ich die Wohnung und fuhr mit dem Rad zur Aral-Tankstelle wegen Zigaretten. Hallo Wirklichkeit! Alles war wie immer.

Frischer Dreck um 4:30

Zurück in der Wohnung ging ich in die Küche. Auf dem Küchenbrett war frischer Mäusedreck. Es war 4:30 Uhr. Ich trank Bier und Fair-Trade-Orangensaft und lud mir tatsächlich „Insomnia“ von Faithless herunter. Für die einen ist das Glas immer halb leer, für die anderen halb voll. Was für die einen eine riesige Ratte ist, ist für die anderen ein kleines Mäuschen. Vielleicht war es auch ein Biber oder eine Bisamratte. Heute war jedenfalls die Hausverwalterin aus dem Urlaub zurückgekommen.

Abends, nach dem Fußball, ging ich zu ihr und erzählte ihr von dem, was ich Mäuschen nannte. Sie sagte, es könne sich auch um eine Ratte handeln und bot mir an, die Nacht in ihrer Wohnung zu schlafen. Ich war plötzlich irgendwie stolz darauf, inmitten eines interessanten Abenteuers zu stehen, und bedauerte es fast, dass der Schädlingsbekämpfer am nächsten Tag kommen wollte. Ein bisschen mulmig war mir aber doch zumute. Auch hatte ich – wie bei allem – den Eindruck, es würde irgendetwas bedeuten.

Es war schon nach Mitternacht, als ich in die Küche ging, um hier auf das Tier zu warten. Dabei wollte ich mir „Twin Peaks“ auf meinem Laptop angucken. Auf den Boden hatte ich ein Schälchen mit Wasser und Brötchenkrümeln gestellt. Das sollte die Henkersmahlzeit für das Tier sein, das der Kammerjäger am nächsten Tag bestimmt erlegen würde. Wartend wurde mir immer gruseliger zumute. Hinter der Tonspur von „Twin Peaks“ versteckten sich Geräusche. Nach wenigen Minuten brach ich mein Experiment ab und guckte im Bett weiter. Auf der Tonspur von „Twin Peaks“ ist, glaube ich, Rattenfiepen mit drauf, um das Unheimliche zu verstärken.

Am nächsten Morgen war ich fast erleichtert, dass das Tier in der Nacht wieder am Türrahmen geknabbert hatte, dass es also frische Spuren gab, die seine Existenz bewiesen. Der Kammerjäger hatte rote Wangen und machte einen zugleich beruhigenden und kompetenten Eindruck. Als er die Spuren des Tieres sah, sagte er mehrmals „Ach du dickes Ei!“. Er erklärte, dass alles auf eine oder mehrere Ratten hindeuten würde, berichtete, dass manche Ratten auch die Hauswand hochklettern würden und dann durchs Fenster kämen, und äußerte die Vermutung, dass meine Ratte durch die Toilette gekommen sei. Dann baute er einige Fallen auf und ging wieder, um sich den Keller anzugucken, den er dann auch verminte.

Nachdem das nette „Mäuschen“ zur Ratte geworden war, packte mich die Panik. Mit dem Mäuschen hätte ich mich befreunden können, vor der Ratte hatte ich Angst. Die Ratte würde mir in die Eier beißen, während ich auf dem Klo saß. Das Klo war das Tor zur Hölle. Deshalb kippte ich die nächsten Tage häufig hochtoxischen WC-Reiniger ins Klo. Freunde empfahlen mir, nachts immer einen Ziegelstein auf den Klodeckel zu legen.

Entängstigung im Internet

Ich setzte auf die entängstigenden Kräfte der Aufklärung und suchte nach Ratten im Internet: 320 Millionen Ratten sollen in Deutschland leben. Etwa 7 Millionen sollen es in Berlin sein. 2004 wurden 64.000 von ihnen zu Versuchszwecken getötet. „Die Grünen forderten, die Versuche einzuschränken und durch andere Methoden zu ersetzen.“ Auf YouTube gibt es viele kleine Filmchen, die von – meist amerikanischen – Ratten handeln. Gewitzte benutzen „Rat Cams“, um zu gucken, was hinter dem schweren Schrank ist. Rattenfreunde haben sich in Vereinen zusammengeschlossen und freuen sich an der verschmusten Distanzlosigkeit der Tiere. Es gibt das Obdachlosentheater „Die Ratten“, das sich nach einem berühmt-berüchtigten Satz des berühmt-berüchtigten CDU-Lokalpolitikers Klaus-Rüdiger Landowsky benannt hatte („Es ist nun einmal so, dass dort, wo Müll ist, Ratten sind, und dass dort, wo Verwahrlosung herrscht, Gesindel ist. Das muss in der Stadt beseitigt werden.“, 27. 2. 1997).

In der jüngeren Kulturgeschichte taucht das Ratten- bzw. Mäusemotiv häufig auf klassischen Schallplatten von David Bowie auf, und der Held des Murakami-Romans „Wilde Schafsjagd“ heißt auch „Ratte“. Ein englischer Tierrechtsaktivist der frühen Siebziger nannte sich „Dr. Ratte“, wie mir Helmut Höge berichtete. Es ist unklar, ob es sich bei dem Helden der schönen Kafka-Erzählung „Der Bau“ um eine Ratte handelt. Hans Falladas „Die Geschichte von der gebesserten Ratte“ handelt in jedem Fall von einer solchen.

Ich meinte das Rattengift riechen zu können und fand den Geruch eklig. Das Tier selber tauchte nicht mehr auf.