Geteilte Stadt auf Vietnamesisch

16 Jahre nach der Wiedervereinigung leben Berliner Vietnamesen immer noch strikt getrennt: ehemalige Bootsflüchtlinge im Westen der Stadt, ehemalige DDR-Vertragsarbeiter im Osten

von MARINA MAI

Hungs Laden für asiatische Lebensmittel und Gemüse in Lichtenberg ist einer der wenigen Orte in Berlin, in dem sich Vietnamesen aus beiden Stadthälften treffen. Ob jemand ehemaliger Vertragsarbeiter ist, Bootsflüchtling oder ob er als Asylbewerber nach Deutschland kam – Reis in 20-Kilo-Säcken, Glasnudeln, Mangos und Bittergurken kaufen sie alle.

Hung, der Verkäufer, wurde 1988 von seinem sozialistischen Staat als Vertragsarbeiter in die DDR geschickt. Er durfte dort Geld verdienen, mit dem er seine Familie unterstützen konnte, was als große Ehre galt. Mit seinen politischen Gegnern ging der vietnamesische Staat damals härter um. Sie flohen deshalb vor den Kommunisten. Viele von ihnen kamen als sogenannte Bootsflüchtlinge um 1980 im Westteil der Stadt an.

Hung sind sie fremd geblieben. „Wenn sie zu Neujahr das Tet-Fest feiern, dann hissen sie die Flagge der untergegangenen Saigoner Republik und singen deren Hymne. Da mache ich doch nicht mit,“ sagt der Mittvierziger. „Außerdem reden sie immer schlecht über Onkel Ho.“ Damit meint er den vietnamesischen Staatsgründer Ho Chi Minh. Den verehrt der Gemüsehändler, auch wenn er sich sonst kaum für Politik interessiert.

16 Jahre nach der deutschen Einheit sind Vietnamesen eine Gruppe, die die Einheit noch nicht vollzogen hat. Im Ostteil leben ehemalige DDR-Vertragsarbeiter und Asylbewerber, die überwiegend aus Nord- und Mittelvietnam stammen. Die Bootsflüchtlinge im Westteil der Stadt sind meist Südvietnamesen. Beide Gruppen sprechen unterschiedliche Dialekte, kochen anders und sind selten miteinander verwandt.

Im vergangenen Herbst wollte die Berliner Volksbühne zum Kongress „Vietnam 2005“ Vietnamesen aus beiden Stadthälften ihr Land präsentieren lassen. Bereits im Vorfeld entbrannte ein heftiger Streit um das Bühnenbild: Bühnenbildner Mark Bausback hatte aus Blumen die vietnamesische Staatsflagge neben der Flagge der untergegangenen südvietnamesischen Republik gestalten lassen. Unter Letzterer stand die korrekte Einordnung „Süd 1954 bis 1975“. Beide Flaggen sollten als Symbol für die vietnamesischen Gemeinden aus den beiden Stadtteilen stehen. Intellektuelle aus Ost und West haben das angenommen. Aber für einzelne Vereine und Händler aus Nordvietnam war die Süd-Flagge ein Grund, ihre Teilnahme abzusagen.

Die Bootsflüchtlinge sind als Handwerker, Krankenpfleger oder Banker bestens integriert. Sie haben pünktlich Feierabend, freie Wochenenden und Urlaub. Davon können die ehemaligen Vertragsarbeiter nur träumen. Als Händler ohne Netz und doppelten Boden arbeiten sie 14 Stunden am Tag, an 6 oder 7 Tagen in der Woche.

Auf den Gemüsehändler Hung wirken seine Kunden aus dem Westteil der Stadt nicht mehr wie Vietnamesen, sondern eher wie Deutsche: „In meinem Laden haben sich mal welche drüber unterhalten, wie sie ihren Kindern ein Schuljahr in den USA finanzieren können.“ Für Hung ist das ein Sündenfall, etwa wie die Deutschen ihre Eltern in Altersheime stecken. „Die Kinder brauchen doch die Nähe ihrer Familien. Wenn Kinder auch nur den Wunsch haben, in den USA weit weg von den Eltern zu leben, sind sie für die vietnamesische Kultur schon verloren.“