Ein imaginäres Museum

Joachim Fest blickt auf seine Kindheit und Jugend während des Nationalsozialismus zurück. Seine Autobiografie ist wie die seines Freundes Sebastian Haffner eine republikanische Tugendlehre

VON ALEXANDER CAMMANN

„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.“ Mit ahnungsvollem Raunen begann Thomas Mann seine Tetralogie „Joseph und seine Brüder“. Er schloss die Frage an: „Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“ Joachim Fest teilte diese Skepsis mit seinem lebenslangem Idol. Anfang und Ende der Kindheits- und Jugenderinnerungen, die der kürzlich verstorbene Publizist und langjährige Mitherausgeber der FAZ vor seinem Tod noch fertigstellen konnte, gehören dem Zweifel: „Die Vergangenheit ist stets ein imaginäres Museum.“

Der eigene Formwille und der zeitliche Abstand würden die Ereignisse färben; die ungetrübte biografische Wahrheit sei „nicht zu haben“, zitiert er Sigmund Freud. Dennoch hat Fest sich der problematischen Erinnerungsarbeit unterzogen – mit staunenswert präzisem Ergebnis.

In Karlshorst, einem eher kleinbürgerlichen Stadtteil im Berliner Osten, wuchs der 1926 geborene Fest auf. Das Politische war das Schicksal seiner Familie. Der Vater Johannes, Schulrat und in der katholischen Zentrumspartei aktiv, stieg später im republiktreuen „Reichsbanner“-Verband in führende Positionen auf. Bürgerlich, republikanisch, katholisch, preußisch: Diese vier ethischen Eckpfeiler prägten die Familie. Gleich 1933 wird der Vater von den Nazis entlassen.

Fortan verteidigt Johannes Fest in vehementer Kompromisslosigkeit gegenüber den braunen Machthabern sein privates Refugium und seine fünf Kinder. Als die durch materielle und psychische Bedrängnis verzweifelte Mutter ihren Mann 1936 auffordert, doch pro forma der NSDAP beizutreten, weil solche Lippenbekenntnisse als Überlebenstechnik für kleine Leute legitim seien, erleben die heimlichen Zuhörer Joachim und sein älterer Bruder Wolfgang den unbeugsamen Vater: „Wir sind keine kleinen Leute. Nicht in solchen Fragen!“ Anpassung kam nicht in Frage. Darin lag weniger Stolz als vielmehr die Einsicht, nicht gegen das Gewissen leben zu können.

Folgerichtig lautete das biblische Motto, das Vater Fest den beiden ältesten Söhnen mitgab: „Auch wenn alle mitmachen – ich nicht!“

Den Alltag in der Diktatur schildert Fest anschaulich: stille Verzweiflung und Zornesausbrüche der Eltern, Gestapo-Heimsuchungen, die Straßenseite wechselnde einstige Bekannte, die Solidarität gleichgesinnter Freunde. Die idyllischen Momente des Heranwachsens bleiben stets von Gefährdung überschattet. Dennoch gibt es sie: Ferien auf dem Land, Opernbesuche mit Tante Dolly, Fußballleidenschaft und Abenteuer in Berlins Proletariervierteln. Diese Erinnerungen zeigen eine männliche Welt; Fests Frauengestalten bleiben – wie übrigens auch seine katholische Prägung – unscharf, mit Ausnahme der rührend feinfühlig, zugleich in beklemmender Offenheit geschilderten Mutter.

Wegen einer Hitlerkarikatur, die Joachim in die Schulbank schnitzte, müssen die drei Brüder 1942 die Schule verlassen und kommen nach Freiburg auf ein katholisches Internat. Joachim meldet sich nach Arbeitsdienst- und Flakhelferzeit zur Wehrmacht, um der SS zu entgehen. Das führt zu heftigen Konflikten mit dem Vater: „Zum Verbrecherkrieg Hitlers“ melde man sich prinzipiell nicht freiwillig, so dessen Maxime.

Ende 1944 stirbt der ältere Bruder im Krieg; man ahnt die Erschütterung in den kargen, gedämpften Worten des Autors. Fests eigenes Überleben – bedroht zum einen durch ein Kriegsgericht nach einer Denunziation, zum anderen durch einen Kugelhagel, dem sein verhasster regimetreuer Feldwebel neben ihm zum Opfer fällt – wird kaltblütig genau beschrieben. Nach Kriegsende und amerikanischer Gefangenschaft beginnt die Zeit allmählicher Entfaltung.

„Stolz auf die Abweichung“: Joachim Fest hat sich am Ende seines Lebens noch einmal tief in den Brunnen seiner Vergangenheit hinabgelassen. Ganz so unergründlich war dieser doch nicht; erstaunlich viel förderte er zutage dank zahlreicher Gesprächsnotizen, der familiären Überlieferung und Recherchen bei einstigen Weggefährten.

In den Siebzigerjahren hatte sein älterer Freund, der Publizist und Emigrant Sebastian Haffner, Fests monumentaler Hitler-Biografie seine berühmten „Anmerkungen zu Hitler“ komplementär zur Seite gestellt. Drei Jahrzehnte später sind beide wiederum vereint, über den Tod hinaus in ihren Vermächtnissen: Künftig wird man Haffners posthume, im Jahr 2000 erschienene „Geschichte eines Deutschen“ und Fests „Ich nicht“ als die beiden bedeutendsten autobiografischen Tugendlehren lesen, die der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts entstammen.

Joachim Fest: „Ich nicht. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend“. Rowohlt Verlag, Hamburg 2006, 367 Seiten, 19,90 Euro