Bombay von ganz unten

In faszinierenden Reportagen erzählt Schriftsteller Suketu Mehta von seiner Hassliebe zur „Maximum City“ Indiens

Mehta zeigt Mechanismen von Macht und Gewalt auf, findet aber auch Beispiele großer Menschlichkeit

Wenn Inder einander New York erklären, sagen sie: „Es ist fast wie Bombay.“ Der indische Schriftsteller Suketu Mehta ist in beiden Städten zu Hause, doch ihn faszinieren die Geschichten der indischen Metropole. In „Bombay. Maximum City“ hat er sie nun in mitreißenden Reportagen aufgeschrieben.

Nach einer Einleitung über Mehtas Familiengeschichte sowie die Historie der Stadt sind die Unruhen 1992/93 sein Ausgangspunkt. Damals starben mindestens 1.400 Menschen bei Zusammenstößen zwischen Hindus und Muslimen, wobei zunächst überwiegend Muslime Opfer fanatischer Hindus waren. Später rächten sich muslimische Unterweltbosse mit einer Serie von Bombenanschlägen.

Mehta, der auch an Drehbüchern für Bollywoods Filmindustrie mitarbeitet, kann diese Arbeit nutzen, um das Herz und Vertrauen gewalttätiger Hindu-Fundamentalisten und Slumlords, muslimischer Gangsterbosse, des obersten Verbrechensbekämpfers der Polizei wie auch von Prostituierten zu gewinnen. Fasziniert von der Aussicht, in einem Film verewigt zu werden, lassen sie Mehta teilhaben an ihren Gedanken und Geschäften, Verbrechen, Sehnsüchten und Ängsten.

Mal angewidert, mal fasziniert schildert Mehta seine Begegnungen. Seine literarischen Reportagen sind geprägt von einer Hassliebe zu dieser unglaublichen Stadt der Enge. Das Leben dort hat bisher niemand mit solchen außergewöhnlichen Zugängen von unten beschrieben wie Mehta. Dabei hätten dem über 780 Seiten langen Buch allerdings einige Straffungen gut getan.

Eingeflochten in seine Begegnungen sind Geschichten des Überlebenskampfs und der Gewalt in den Slums, von Korruption und Schutzgelderpressung, vom Versagen der Justiz und Politik wie vom Kampf um die tägliche Wasserration und Notdurft. In Bombay haben zwei Millionen Menschen keine Latrinen. Vor allem für Frauen ist es immer wieder demütigend, sich jeden Morgen erst einen Ort suchen zu müssen, wo sie einigermaßen unbeobachtet ihre Notdurft verrichten können.

Bombay gleicht oft einem Albtraum. Daran lässt Mehta keinen Zweifel, obwohl er dieser Stadt verfallen ist. Aber er verliert die kritische Distanz nicht. Massives Elend und schreiende Ungerechtigkeit nennt er beim Namen. Er zeigt Bombays Mechanismen von Macht und Gewalt auf, findet aber auch immer wieder Beispiele erstaunlicher Menschlichkeit.

So schreibt er nicht nur über Bandenkriege zwischen Hindus und Muslimen oder über die Hackordnung unter den Kasten, sondern beobachtet auch eine unglaubliche Solidarität unter den Fahrgästen der hoffnungslos überfüllten Pendlerzüge:

„Diese Menschen bewahren sich ihr Mitgefühl, wissen, dass dich dein Boss womöglich anschreit oder dir das Gehalt kürzt, weil du den Zug verpasst hast, doch sie machen Platz, wo es keinen gibt, nehmen noch eine zusätzliche Person mit. Und in dem Moment, in dem sie zupacken, wissen sie nicht, ob die Hand, die sich ihnen entgegenstreckt, die eines Hindu oder Muslimen oder Christen oder Brahmanen oder die eines Unberührbaren ist, ob der Mensch in dieser Stadt geboren wurde oder erst heute morgen angekommen ist (…) Komm an Bord, sagen sie. Wir rücken zusammen.“ SVEN HANSEN

Suketu Mehta: „Bombay. Maximum City“. Aus dem Englischen von A. Emmert, H. Schlatterer und H. Freundl, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, 782 Seiten, 26,80 Euro