Zweifelsfreier Aufschwung

Der neoliberale Journalist Oliver Müller analysiert ein wenig zu unkritisch, doch lesenswert, wie Indien zum neuen Star der Weltwirtschaft aufsteigt. Soziale Probleme interessieren ihn dabei nicht

VON SVEN HANSEN

„Europa kämpft um den Erhalt der 35-Stunden-Woche. Unsere Menschen wollen den 35-Stunden-Tag.“ Dieses Zitat von Indiens Wirtschaftsminister Kamal Nath steht nicht nur für Ehrgeiz und Leistungsbereitschaft, sondern auch für das an Arroganz grenzende Selbstbewusstsein indischer Eliten. Sie zählen ihr Land ohne Zweifel zu den großen Gewinnern der Globalisierung. Das macht auch Oliver Müller, Indien-Korrespondent des Handelsblatts, in seinem Buch „Wirtschaftsmacht Indien: Chance und Herausforderung für uns“.

Indiens Eintritt in die Weltwirtschaft falle mit einer neuen Phase der Globalisierung zusammen, in der wissensintensive Tätigkeiten in Niedriglohnländer verlagert würden, so Müller. „Gut bezahlte Dienstleistungen wandern nun genauso leicht aus Hochlohnländern nach Indien ab wie zuvor einfache Industriearbeit nach China.“

Eine Stärke des Buches sind die vielen Vergleiche mit China, wo Müller zuvor Korrespondent in Hongkong war. So verdeutlicht er die Vielschichtigkeit heutiger Globalisierungsprozesse. Indien sei als einziges Land direkt „vom primären Agrarsektor in den tertiären Dienstleistungssektor“ gesprungen, so Müller. Sein Aufstieg ist „langsamer, leiser und weniger spektakulär“ als der Chinas.

Das Wachstum auf dem Subkontinent komme von innen und werde überwiegend vom Konsum getrieben. Zwar liege derzeit China noch deutlich vorn, doch mittel- bis langfristig werde Indien es wohl überholen. Dafür müsse allerdings die Wirtschaft weiter mit 8 Prozent pro Jahr wachsen und die Gefahr eines Atomkonflikts mit Pakistan gebannt sein. Dann läuft Indien „nicht Gefahr, dass sein Boom in einem Überinvestitionsrausch endet oder an nicht länger unterdrückbaren politischen und sozialen Verwerfungen scheitert“, so Müller. Gemeint ist Chinas noch ausstehende politische Transformation.

Zu kurz kommen bei Müller jedoch Indiens innenpolitische Risiken. Das mit neoliberaler Ideologie gespickte Buch, das manchmal nach Propaganda des indischen Industrieverbandes klingt, benennt zwar klar Indiens Schwächen. So räumt Müller ein, dass der derzeitige Boom an der Bevölkerungsmehrheit vorbeigeht. Die sozialen Gräben wachsen, und der Boom bei Dienstleistungen kann keine Jobs für all die unqualifizierten Landflüchtlinge stellen. Doch sieht er die Lösung darin, dass Indien – nach Erfolgen bei Dienstleistungen, Spitzensoftware und künftig der Forschung für Weltkonzerne – beginne, eine wettbewerbsfähige Industrie aufzubauen. Dann stehe nur noch die Reform des Landwirtschaftssektors aus.

Die Gefahren des Auseinanderklaffens innerindischer Entwicklungen vernachlässigt Müller. Wie indische „failed states“ wie Bihar oder auch der unruhige Nordosten zu Nutznießern der indischen Globalisierung gemacht oder überhaupt reformiert werden können, vermag er nicht zu sagen. Müller räumt der wachsenden maoistischen Guerilla in den vernachlässigten Regionen einfach keine Siegeschancen ein. Er setzt seine Hoffnungen auf die wachsende Mittelschicht, die bei Durchsetzung ihrer Interessen schon für notwendige Reformen sorgen werde. Hier macht er es sich wie das Gros der indischen Elite viel zu einfach. Völlig vernachlässigt er Fragen indischer Sozialpolitik. Sie kommt bei ihm nur als Investitionshindernis vor.

Nachvollziehbarer ist Müllers Argumentation, wenn er darauf verweist, wie Indiens Entwicklung die Industrieländer unter Druck setzt. Hier ist das Buch ein vehementer Weckruf für alle, die Indiens Aufschwung der letzten Jahre bisher nicht ernst nahmen. Zwar überzeugen seine Lösungsvorschläge nicht – etwa die Forderung, den Kündigungsschutz in Deutschland zu lockern. Aber die Analyse der anstehenden Probleme ist dennoch so lesenswert wie das streitbare Buch insgesamt.

Oliver Müller: „Wirtschaftsmacht Indien. Chance und Herausforderung für uns“. Carl Hanser Verlag, München 2006, 312 Seiten, 19,90 Euro