Mein Vater, der Fettsack

„Stille“: Tim Parks strickt weiter an seiner Romanserie über Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs

Wenn Söhne in Büchern mit ihren Vätern abrechnen, bekommt man in der Regel nur eine Seite der Geschichte zu hören. Das ist manchmal vergnüglich zu lesen, wie da einer auf den anderen einprügelt, ohne dass dieser sich wehren kann. Der Wahrheitsfindung aber dient es nicht unbedingt. In seinem neuen Roman „Stille“ bietet Tim Parks eine neue Variante des Vaterabrechnung-Genres, die beide – Vater und Sohn – zu Wort kommen lässt, ohne dabei ständig die Perspektive zu wechseln.

Harold Cleaver, ein bekannter Journalist und Fernsehmoderator, ist vor dem Ansturm der Medien, deren Neugier er selbst sein ganzes Berufsleben lang bedient hat, aus London in ein abgelegenes Dorf in Südtirol geflohen. Anlass seiner Flucht ist die Veröffentlichung des autobiografischen Romans seines ältesten Sohns Alex, dessen Titel „Im Schatten des Allmächtigen“ fast schon alles sagt. Es ist eine wütende Abrechnung mit dem dominanten Vater, dem hypochondrischen Fettsack, dem Frauen verachtenden Schürzenjäger, dem „wettbewerbsgeilsten Mensch, den die Welt je gesehen hat“. In 2.000 Meter Höhe findet Harold die Ruhe und Einsamkeit, die er braucht, um die eigene Vergangenheit aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Auf einer verlassenen Berghütte versucht der verfettete, gestresste Großstädter zum ersten Mal in seinem Leben, „nicht mehr in Kategorien wie Erfolg und Misserfolg zu denken, sondern die schlichteste Beziehung zu sich und der Welt herzustellen, die möglich war“. Und das heißt zunächst, einen Fuß vor den anderen zu setzten, ohne in die Schlucht zu stürzen, Schneemassen wegschaufeln, Hunde vertreiben, Wasser holen, Nahrungsmittel besorgen, Feuer machen, kurz: die Einübung in elementare Überlebenstechniken. Rings um ihn herum herrscht Stille, nicht einmal das Handy funktioniert, und mit den Bewohnern des nächstgelegenen Hofs ist aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse keine Verständigung möglich.

In dieser erzwungenen Isolation beginnt der kommunikationsstarke Journalist, der zwar Präsident Bush interviewen, aber kein vernünftiges Wort mit dem eigenen Sohn mehr wechseln kann, zu sich selbst zu sprechen: über die Beziehung zu seiner langjährigen Lebensgefährtin und seine zahlreichen Affären, über beruflichen Erfolg und familiäre Krisen, über den Tod der geliebten Tochter, an dem der Vater, so Alex, eine Mitschuld trägt.

Tim Parks’ Spezialität ist der innere Monolog, und auch das elfte Buch des britischen Erfolgsautors besteht aus einem einzigen endlosen Bewusstseinsstrom, in dem gegenwärtige Sinneswahrnehmungen und längst verschüttete Erinnerungen ineinander fließen. Diese Technik hat Tim Parks zwar nicht erfunden, aber in früheren Romanen wie dem großartigen „Schicksal“ oder zuletzt „Doppelleben“ zur Meisterschaft gebracht. Seine Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs plagen sich in Gedanken stets mit ihren Ehefrauen, Geliebten und missratenen Kindern ebenso wie mit alltäglichsten Verrichtungen. Sie schimpfen auf den Zustand der Welt, während sie auf dem Klo sitzen und nicht pinkeln können.

Allerdings gibt es Erschöpfungserscheinungen. Die scharfe Beobachtungsgabe hat Parks sich erhalten, doch seine sprunghaften, an Thomas Bernhard geschulten Hasstiraden, haben inzwischen etwas Abgeklärtes, handwerklich Routiniertes. Der schwarze Humor seiner früheren Werke ist auch noch ausgebleicht. Selbst die geheimnisvolle Geschichte um die Bauernfamilie des benachbarten Hofs, die sich dem britischen Eindringling nach und nach enthüllt und ihn von seinen eigenen Problemen ablenkt, bringt nur ein bisschen Lokalkolorit. In gewohnter Manier spielt Parks, der seit langem in Norditalien lebt, mit nationalen Klischees, die sich zwischen dem weltgewandten Briten und den scheinbar tumben Südtiroler Bauern auftun. Über alle sprachlichen und kulturellen Unterschiede hinweg kommt man sich schließlich doch näher, und wo sich wildfremde Menschen ohne viele Worte verstehen, bleibt auch die große Vater-Sohn-Aussprache inklusive Pinkelpause nicht aus.

Tim-Parks-Kenner wird das versöhnliche Ende kaum überraschen, der finale Hoffnungsschimmer gehört zum Standardrepertoire dieses Autors. Am Schluss steht der geläuterte Harold am Fenster und wartet auf ein Zeichen des Himmels, zum Beispiel eine Sternschnuppe. Und dann – richtig! – geht er auf die Toilette. MARION LÜHE

Tim Parks: „Stille“. Aus dem Englischen von Ulrike Becker. Kunstmann Verlag, München 2006. 360 Seiten, 22 Euro