Wo die Vergänglichkeit regiert

Reich des Immergleichen: Annette Pehnt, Spezialistin für die Randbereiche des Lebens, untersucht die Daseinsmöglichkeiten in einem Altersheim. Ihr Roman „Haus der Schildkröten“ ist ein Trost verweigerndes, genaues und würdevolles Buch

VON JÖRG MAGENAU

Das Alter ist die Kehrseite des Lebens, und davon ist selten die Rede. Wer dort angelangt ist, hat nicht mehr viel zu erwarten, vor allem dann nicht, wenn er in einem der dafür vorgesehenen Heime gelandet ist, wo die Alten unter sich sind, Erbsenpüree zu sich nehmen und die Nachmittagsstunden in Bastelkreisen zubringen müssen. Wer noch nicht dement ist, der wird es am besten freiwillig. Wer noch einigermaßen bei Verstand ist, hat guten Grund, sich in Bösartigkeit und Aggressivität zu retten, während die gelegentlich zu Besuch kommenden Familienangehörigen die Peinlichkeit der Situation mit zwanghafter Freundlichkeit zu überspielen suchen.

Annette Pehnt wagt sich in ihrem dritten Roman in diese trostlose Szenerie mit Kaffee und Kuchen und Blümchendecken vor. Sie untersucht die Daseinsmöglichkeiten in „Haus Ulmen“ als einem exemplarischen Altersheim. Lustig ist das nicht, und so ein Trost verweigerndes Buch wird wohl auch kein Bestseller. Pehnt beweist sich damit einmal mehr als Spezialistin für die Randbezirke des Lebens. Schon der Held ihres Debüt „Ich muss los“ und die Erzählerin von „Insel 34“ waren Einzelgänger, die sich in ihren eigenen Welten einzurichten verstanden, in Landschaften der Fantasie und der Sehnsucht. Im „Haus der Schildkröten“ ist das Existieren im Abseits nun aber keine selbst gewählte Daseinsform mehr, sondern die bittere Konsequenz des Lebens.

Die Drehtüren markieren die Grenze zwischen dem Drinnen und dem Draußen, und wer sie hinter sich gelassen hat, für den hört die Zeit auf zu vergehen. Wie ein Empfangskomitee sitzen die „Immergleichen“ im Foyer, diejenigen, die selbst keine Besuche zu erwarten haben und die kaum noch Lebenszeichen von sich geben. Die sparsamen Restbewegungen ihrer marmorweißen Hände an der Rollstuhlarmlehne sind mehr zu ahnen als zu sehen. Der Übergang zwischen Leben und Tod ist fließend, Individualität gibt es in diesem vegetativen Stadium nicht mehr.

Näher am Leben stehen die, die sich wenigstens noch ein paar Ticks bewahrt haben – etwa der Professor, der von seiner Arbeit besessen ist. Unermüdlich schreibt er an einem Buch und versteckt die Manuskriptblätter in seinem Zimmer, auf denen aber nichts zu erkennen ist als Striche und Punkte. Er vergisst sofort alles, was ihm widerfährt, und verwechselt die Enkelin mit der längst gestorbenen Ehefrau. Es ist erstaunlich, wie genau Annette Pehnt sich in dieses zerrüttete Bewusstsein einzufühlen versteht, wie sie die Qual beschreibt, unter der er zu leiden hat, wenn er nach den Worten sucht, die ihm mehr und mehr entgleiten. Hier schreibt ja keine alte Frau – Annette Pehnt ist Jahrgang 1967 – sondern eine, die das Alter und das Altersheim allenfalls als Besucherin kennt. Die auktoriale Perspektive entspricht dem entsetzten, hier aber im Erzählen nüchtern und kühl gewordenen Blick einer Außenstehenden, die all das Sabbern und die Inkontinenz der Greise sieht und registriert. Weil sie aber nicht nur den Zerfall der Körper schildert, sondern zugleich immer wieder ins Bewusstsein der Figuren vordringt, bewahrt sie dabei ihre Würde. Das ist vielleicht die größte Leistung dieses Romans.

Ins Zentrum des Geschehens rücken dem Erfahrungsbereich der Autorin entsprechend zwei Besucher von Haus Ulmen: der Sohn des Professors und die Tochter einer alten Frau, die nur noch mahlende Kaubewegungen mit dem Kiefer verübt. Die Erzählerstimme referiert das ewige Gifteln und Granteln der Alten, das die Tochter anhand von Blicken und sparsamster Mimik recht genau rekonstruiert. Aus dieser rudimentären Kommunikation ist eine komplizierte Mutter-Tochter-Beziehung ablesbar, die jeden Besuch zu einer Kraftprobe werden lässt. Ähnlich ergeht es dem Sohn des dementen Professors, der auch noch unter der Trennung von seiner Frau und seiner kleinen Tochter zu leiden hat. „Haus der Schildkröten“ lässt sich nebenbei auch als ein Roman über den Zerfall der bürgerlichen Familie lesen.

Wenn die beiden Besucher Dienstag für Dienstag durch die Drehtür wieder ins Freie treten und auf dem Parkplatz zusammentreffen, fühlen sie sich wie erlöst. „Bevor ich ins Heim gehe, bringe ich mich um“, sagt er zu ihr. Es ist absehbar, dass die beiden sich einander zuwenden, um sich angesichts des fortschreitenden Verfalls ihrer eigenen Lebendigkeit zu versichern. Doch ihre Begierde hat nichts mit Liebe zu tun. Ihre Körper betrachten sie mit dem am Alter geschulten Blick als Vergänglichkeitslandschaften. Wenn sie sich nebeneinander entkleiden und dabei versuchen, ihre Makel zu verbergen, dann klingen diese Szenen eher nach Pflichterfüllung als nach Rausch und Lust. Gemeinsam reisen sie nach Malaysia, versuchen so etwas wie Flitterwochen, doch das Scheitern der Liebesbemühung ist absehbar. Eine sterbende Schildkröte im morastigen Teich einer Tempelanlage ist das Zeichen dafür, dass mit Rettung durch Flucht nicht zu rechnen ist. Ohne die Alten fehlt die gemeinsame Basis.

„Haus der Schildkröten“ ist ein deprimierender Roman der leisten Töne. Er handelt ungeschönt vom Ende des Lebens hinter einer Drehtür. Aber er zeigt auch, dass das Leben diesseits davon von diesem Arrangement der Ausgrenzung mitbetroffen ist. Von Haus Ulmen geht wie von einem schwarzen Loch eine Sogkraft aus, die dem Alltag mit seinen beruflichen und familiären Anstrengungen jeden Sinn zu rauben droht. Der Ewigkeit des Immergleichen im Inneren entspricht die Hetze draußen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wo man sich gerade befindet.

Annette Pehnt: „Haus der Schildkröten“. Piper Verlag, München 2006. 184 Seiten, 16,90 Euro