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: Weinkenner mit Aufstiegslust

Um die Bestimmung des Alfred Gusenbauer rankt sich ein ähnlicher Mythos wie um Gerhard Schröders legendäres Rütteln am Tor des Kanzleramts. Bereits als Fünfjähriger soll er zum Erstaunen der Spielgefährten einen Berufswunsch geäußert haben: Bundeskanzler. Mutter Gertrude lachte damals, nahm aber ihren ehrgeizigen Sprössling fortan zu allen politischen Veranstaltungen in der niederösterreichischen Gemeinde Ybbs an der Donau mit.

Seine Bildung führt der mehrsprachige Doktor der Politik- und Rechtswissenschaften auf die Reformpolitik des großen SPÖ-Kanzlers Bruno Kreisky (1970–83) zurück. Der schaffte Studiengebühren ab und öffnete die Unitore auch für Begabte aus bescheidenem Hause wie Gusenbauer. Schon deshalb steht die Streichung der von der ÖVP-FPÖ-Regierung eingeführten Gebühren ganz oben auf der roten Agenda.

Gusenbauer, der mit Lebensgefährtin Eva Steiner und Tochter Selina zusammenlebt, übte nie einen Beruf aus. Noch auf der Uni wurde er Juso-Chef und griff die SPÖ von links an. Sein Küssen des Asphalts auf dem Moskauer Flughafen (ein Scherz, wie er versichert) und sein Brigadeeinsatz auf den Kaffeeplantagen des revolutionären Nicaragua gingen ihm noch Jahre nach.

So entspannt wie nach den ersten Hochrechnungen sah man Gusenbauer selten. Ein langer Leidensweg wurde endlich belohnt. Nach dem SPÖ-Debakel bei den Wahlen 1999 wurde er auf den Schild gehoben, weil die in einen rechten und einen linken Flügel gespaltene Partei einen Kompromisskandidaten brauchte. Er übernahm eine nicht nur moralisch, sondern auch wirtschaftlich fast bankrotte SPÖ. Mit viel Disziplin konnte er den Schuldenstand abbauen. Und dann eilte die SPÖ von Sieg zu Sieg: Sie konnte der ÖVP die Länder Salzburg und Steiermark abjagen sowie mit Heinz Fischer den Bundespräsidenten stellen. Dennoch spottete nicht nur das Regierungslager über Gusenbauers Faible für edle Weine, enge Wanderhosen, seinen Irokesenschnitt oder Schweißperlen auf der Oberlippe. Den härtesten Kampf stand der künftige Kanzler mit den Sozialdemokraten im Gewerkschaftsbund ÖGB durch. Nach einem Spekulationsskandal in der ÖGB-eigenen Bank dekretierte er, Gewerkschaftsbosse hätten im Nationalrat nichts mehr verloren. Zwar gewann er die Machtprobe, doch durfte bezweifelt werden, ob die Gewerkschafter sich im Wahlkampf ins Zeug legen würden. Die Entmachtung der ÖVP wäre ohne diese Widrigkeiten wahrscheinlich deutlicher ausgefallen. An seinem Image muss der künftige Kanzler noch feilen: Gewählt wurde, so zeigen erste Befragungen, die Partei, nicht ihr Kandidat. RALF LEONHARD