Der Tod kennt keine Ursache

Zwölfjähriges Mädchen erkrankt: Neuer Leukämie-Fall in der Nähe des AKW Krümmel. Kieler Gesundheitsministerin Gitta Trauernicht wehrt sich gegen die Vorwürfe, ihr Ministerium sei untätig

von MARCO CARINI

Ein neuer Leukämiefall schreckt die Menschen im schleswig-holsteinischen Geesthacht und in der niedersächsischen Elbmarsch auf. „Beim Deutschen Krebsregister in Mainz wurde vor wenigen Tagen bei einem 12-jährigen Mädchen aus Geesthacht Blutkrebs diagnostiziert“, erklärte jetzt der zuständige Fachbereichsleiter des Landkreises Harburg, Reiner Kaminski.

Damit sind vom Krebsregister seit 1990 aus der Samtgemeinde Elbmarsch und Geesthacht 16 Leukämiefälle bei unter 15-Jährigen registriert worden. Vier von ihnen starben an der Krankheit. Kaminski zufolge liegt „die Zahl der Blutkrebserkrankungen rund um das Atomkraftwerk Krümmel und das GKSS-Forschungszentrum in Geesthacht dreimal höher als der Bundesdurchschnitt“. Damit liege für die Bewohner der Elbmarsch eine „akute Krankheitsgefährdung“ vor.

Die Grünen-Fraktion im niedersächsischen Landtag kündigte gestern an, angesichts des neuen Krankheitsfalls für die Durchführung eines Kolloquiums zur Leukämie in der Elbmarsch einzutreten. „Es muss endlich alles unternommen werden, um diese schreckliche Serie zu stoppen“, fordert der Atomexperte der Grünen, Andreas Meihsies.

„Dieser Fall muss wirklich alle wachrütteln, niemand darf sich mehr hinter Ausflüchten verstecken“, mahnt Reiner Kaminski an die Adresse der zuständigen Ministerien in Berlin, Hannover und Kiel. Auch der Harburger Landrat Joachim Boldt forderte die Ministerien jetzt eindringlich zur Klärung der Ursachen für die Leukämiehäufung auf.

Große Hoffnungen setzen die beiden Harburger Amtsleute indes nicht in ihren Appell. Bereits nach Bekanntwerden des bislang jüngsten Leukämiefalles Ende 2005 hatte Boldt die verantwortlichen Stellen zum Handeln aufgefordert und nur „enttäuschende“ Reaktionen geerntet. Besonders ärgerlich: die Antwort der für die Atomaufsicht des Landes zuständigen Kieler Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD). Trauernicht hatte dem Landkreis im August mitgeteilt, es lägen keine „neuen Sachverhalte“ vor, die eine erneute Ursachenanalyse rechtfertigen würden.

Das Ministerium habe „die Akte Krümmel längst geschlossen und spielt toter Mann“, attackiert der niedersächsische SPD-Landtagsabgeordnete Uwe Harden seine Parteigenossin Trauernicht. Dabei gebe es „viele Indizien, die für Krümmel als Verursacher sprechen und die Kiel nicht ernsthaft prüft“.

Laut Harden, zugleich Sprecher der Initiative „Bürger gegen Leukämie in der Elbmarsch“, hat das schleswig-holsteinische Ministerium sich bislang „geweigert, sich mit den Wissenschaftlern, die eine erhöhte Konzentration radioaktiver Teilchen, in Bobenproben rund um Krümmel und die Gesthachter Forschungsanlage gefunden haben, an einen Tisch zu setzen und diese Ergebnisse ernsthaft zu diskutieren“. Zuletzt hatte der Minsker Universitätsprofessor und Experte für Plutoniumbestimmung, Vladislav Mironov, in diesen Proben eine deutlich erhöhte Konzentration der radioaktiven Isotope Thorium und Plutonium nachweisen können.

Sozialministerin Trauernicht wies gestern gegenüber der taz „diese Vorwürfe als total abwegig“ zurück. „Aus welchem Grund sollte ich als ausgewiesene Atomkraftgegnerin und für Gesundheit zuständige Ministerin hier etwas verschleiern“, so die Ministerin wörtlich. Trauernicht betonte, sie habe sich „monatelang mit der Leukämieproblematik befasst“ und sei auch „den radioaktiven Bodenproben intensiv nachgegangen“. Sie habe aber keine belastbaren Hinweise gefunden, „die Krümmel oder die GKSS als Verursacher“ identifizieren könnten.

Hoffnung setzt die Ministerin in eine derzeit laufende bundesweite „Fallkontrollstudie“ von Leukämiefällen in der Umgebung von Atomkraftwerken, an der das Bundeskrebsregister derzeit arbeitet. Wenn sich aus dieser Untersuchung neue Aspekte ergäben, werde ihr Ministerium „sofort tätig“, sagt Trauernicht. „Solange die Ursache für die Leukämiehäufung nicht gefunden ist“, verspricht sie, „werden wir diese Akte nicht schließen.“