Die Hoffnung nach dem Warnschuss

RINGEN Deutschland stellt bei der Europameisterschaft im finnischen Vantaa das jüngste Team. Die größten Erwartungen lasten auf Frank Stäbler, dem einzigen Athleten von internationalem Format. Das reformierte Regelwerk kommt ihm zudem sehr entgegen

„Durch die geänderten Regeln wird jede Passivität sofort bestraft“

FRANK STÄBLER

VON JÜRGEN LÖHLE

Am vergangenen Montag wurde es plötzlich ein wenig hektisch im Ringerraum des TSV Musberg. Frank Stäbler war gerade bei ein paar Lockerungsübungen, als auf dem Smartphone die Eilmeldung aufblinkte. Pilotenstreik bei der Lufthansa. Keine gute Nachricht, schließlich war Deutschlands Paraderinger auf einem LH-Flug nach Helsinki gebucht. Im finnischen Vantaa will der 24-jährige Marketingassistent bei den Europameisterschaften am Samstag eine Medaille im Leichtgewicht (66 Kilo), im griechisch-römischen Stil holen, bei dem nur Griffe oberhalb der Gürtellinie erlaubt sind. Und da er bis dahin auch noch gut vier Kilo Gewicht verlieren muss, wäre eine Stressanreise mit Auto und Schiff sicher nicht optimal. Aber ein paar Stunden später war die Umbuchung perfekt. Geschafft! Mit raschen Rettungen kennt man sich aus im Ringen. Vor einem Jahr wollten die Oberolympier den Sport von 2020 an aus dem Programm kegeln. Ein paar Monate später rückte das IOC davon aber wieder ab – der weltweite Protest war viel zu groß.

„Der Warnschuss war trotzdem berechtigt“, sagt Frank Stäbler, „es war dringend nötig, dass sich bei uns was bewegt.“ Und wenn er das sagt, hat das Gewicht. Stäbler ist seit Jahren der einzige deutsche Ringer von Weltformat. 2012 wurde er in Belgrad Europameister im griechisch-römisch 66 Kilo, der erste seit 1994. Im vergangenen September holte der Olympia-Fünfte von London dann noch WM-Bronze in Budapest. Und jetzt will er am Samstag um den Titel kämpfen. Den neuen Wind im Ringen bekam Stäbler, der mit dem ASV Nendingen im Februar Deutscher Meister wurde, aber schon in der Bundesliga zu spüren. „Durch die geänderten Regeln wird jede Passivität sofort bestraft“, erklärt er, „und das ist gut, weil es die oft langweilige Taktiererei so nicht mehr gibt.“ Als Konsequenz der olympischen Diskussion werden nur noch zwei statt drei Runden gerungen und die Punkte am Ende zusammengezählt. Man muss also die kompletten sechs Minuten nach vorne gehen. Dem forschen Schwaben kommt das entgegen, Stäbler ringt gerne angriffslustig. Vor zwei Jahren entschied er die EM durch einen gewagten Hechtsprung auf den Gegner ein paar Sekunden vor Schluss für sich. Seither nennt man ihn auch „fliegendes Eichhörnchen“.

Jetzt heißt es allerdings wieder ganz traditionell Gewicht machen. Das bedeutet, über zehn Tage so gut wie nichts essen und die letzten drei Tage vor der Waage auch kaum noch etwas trinken. Dann wird Stäbler mies gelaunt und komplett ausgetrocknet am Freitagabend seine 66 Kilo erreicht haben, um dann am Samstag mit wieder gut 70 Kilo auf die Matte zu gehen. Ziemlicher Schwachsinn, sicher nicht gesund, aber „international einfach notwendig“, sagt er. „Da am Abend vor dem Wettkampf gewogen wird, machen das alle so“, erklärt Stäbler. Würde Deutschlands Primus eine Klasse höher bei 74 Kilo antreten, hätte er es mit Gegnern zu tun, die um die 80 Kilo wiegen und eine entsprechende Muskelmasse haben. „Da hast du keine Chance“, sagt er. In der Bundesliga wird dagegen eine Stunde vor dem Kampf gewogen, da macht die extreme Gewichtsschinderei weniger Sinn, da man sich in der kurzen Zeit bis zum Kampf kaum erholen kann. Eine Änderung des internationalen Reglements könnte auch bei den großen Wettkämpfen Abhilfe schaffen.

Veränderungen hat Frank Stäbler in seiner noch jungen internationalen Karriere sowieso genug erlebt. Persönliche Veränderungen. „Früher bin ich locker zu den Großereignissen gefahren, weil ich mich einfach gefreut habe, gegen die Besten zu ringen.“ Heute gehört er dazu, der Musberger ist das Gesicht der Nationalmannschaft und eine Medaille in Finnland wird eigentlich von ihm erwartet. „Ich will ja auch auf das Podium“, sagt er, „und ich gehöre zu den Favoriten.“

Stäbler sieht sich dabei aber mindestens vier Gegnern auf Augenhöhe aus Osteuropa gegenüber. Und er freut sich, dass um ihn herum im griechisch-römischen Stil lauter Ringer stehen, die er schon seit der Jugend kennt. Mit 24,5 Jahren im Schnitt stellt Deutschland das jüngste Team in Vantaa. Auch eine Folge des olympischen Fortbestands. Ringen, das sieht man, hat in Deutschland eine Zukunft.