Zu viele Deutsche

WANDERUNGEN Die Wanderausstellung „Utopia“ macht in Bremen Zwischenstation auf dem Weg nach Amerika und eröffnet ein reizvoll verwirrendes Referenzlabyrinth

Zukunft, Arbeit, Politik, Liebe, Freiheit! Schon erstaunlich, was aus ein paar Zeilen in einem Roman erwachsen kann

VON ANDREAS SCHNELL

Am Anfang waren es nur ein paar Zeilen in dem Buch „Der Amerika-Müde“ von Ferdinand Kürnberger: Da ging es um eine Gießener Auswanderergesellschaft. Über diese Zeilen gestolpert war in den Siebzigerjahren ein gewisser Henry Schneider, der begann die Geschichte dieser Gesellschaft zu recherchieren, um daraus einen Film zu machen. Der aber nie fertig wurde. Wohl weil in der DDR, wo Schneider lebte, die Suche nach einem besseren Leben lieber nicht auf der anderen Seite des Atlantik stattfinden sollte.

Die Geschichte der Auswanderer machte gleichwohl Karriere, Jahrzehnte später: Schneider hatte auch seinen Freund und Kollegen Peter Roloff auf die Geschichte aufmerksam gemacht, der selbst begann, zur Geschichte der Gießener Auswanderer zu forschen. 2005 gründete er mit Oliver Behnecke die „Reisende Sommerrepublik“, die nun das gesammelte Wissen über die reiselustigen Gießener in der Ausstellung „Utopia“ zusammengefasst hat – Untertitel der Schau: „Ausstellungsreise auf den Spuren einer deutschen Republik in den USA“.

An der lässt sich sehr schön beobachten, wie der Forscherdrang der beiden Sommerrepublikaner ins Kraut schießt. Die Ausstellung, die von Gießen aus ihre Reise auf den Spuren der Auswanderer antrat, die in der Neuen Welt einen demokratischen Staat errichten wollten, nun bis zum 13. Juli in Bremen gastiert, um im September dann in die USA zu reisen, wo sie zunächst in Washington, D. C. zu sehen ist, bevor sie ab November 2014 bis Ende März 2015 in St. Louis, Missouri ihre letzte Station erreicht, lädt geradezu ein, sich in ihr zu verlieren.

Da ist zum einen die Geschichte jener Gießener, die sich nach einer anderen Gesellschaft sehnten, in Zeitgenossenschaft und im Kontakt unter anderem mit Georg Büchner, aber eher geneigt, Utopia anderswo zu errichten, als daheim den Krieg gegen die Paläste aufzunehmen. Schon allein dieses Unterfangen, dass bereits auf der Überfahrt scheiterte, aber gleichwohl und trotz amerikanischer Vorbehalte wegen zu vieler Deutscher, die sich einmischen wollten, seine Spuren im politischen Geschehen der Vereinigten Staaten hinterließ, füllt Bände, in denen mindestens ein paar Kapitel davon erzählen, wie ein Teil der Reisenden (ausgerechnet) auf der Weserinsel Harriersand strandete.

„Utopia“ erzählt aber auch von den Menschen, denen Behnecke und Roloff bei ihren Recherchen begegneten: Der Biobauer, dem heute das Stück Land auf Harriersand gehört, auf dem die Gießener einst campierten. Ein mittlerweile über 100 Jahre alter amerikanischer Hobby-Historiker, der seinerseits über die deutschen Migranten forschte. Die heutigen Bewohner der Anwesen jener Deutschen, die sich damals mit unterschiedlichem Erfolg in Missouri ansiedelten.

Sie alle lernt kennen, wer den Rundgang in der Kulturkirche unternimmt. Am Ausgang geht es dann um die ganz großen Themen: Zukunft, Arbeit, Politik, Liebe, Freiheit! Schon erstaunlich, was aus ein paar Zeilen in einem Roman erwachsen kann.

In Videos, Hörstationen, Fotografie und Wort fächert sich die Geschichte auf, die vor 180 Jahren begann und in St. Louis ihr vorläufiges Ende finden soll. In ihrem Mittelpunkt steht ein Archiv, das mit einer utopischen Bibliothek und Dutzenden Aktenordnern voller Rechercheergebnisse zur weiteren Vertiefung ins Thema einlädt, wofür sogar Schreibtische bereitstehen.

Und dann gibt es noch ein umfangreiches Rahmenprogramm, das noch ein paar Aspekte mehr ins Spiel bringt: Ein externer Kurator erweitert das Geschehen um aktuelle künstlerische Positionen zum Thema Migration, zudem stehen Workshops, Konzerte, Tagungen, Gastspiele wie das vom „Klub Dialog“ am 15. Mai, Lesungen, Filmnächte, Kulturgottesdienste zum Thema und etliches mehr auf dem Programm.

Kein Wunder, dass zumindest in Gießen viele Menschen wiederkamen. Fertig geworden mit dieser Ausstellung ist wahrscheinlich trotzdem niemand.

■ Eröffnung: heute (Samstag), 19 Uhr, bis Juli 2014, Kulturkirche St. Stephani; www.aufbruch-in-die-utopie.net