Ein Wrack ist ein Ort, an dem ein Schatz schlummert

TACHELES Seine ersten Graffiti entstanden hier, seine Jugend-liebe hat er hier kennengelernt: Für unseren Autor war das Tacheles der Heimatplanet in seinem damaligen Sonnensystem Mitte, ein Ort der Kunst, der Visionen. Eine Zeitreise

VON JURI STERNBURG

Ich stehe in der Oranienburger Straße. „Hast du vielleicht ’nen Euro übrig?“, fragt mich ein umherirrender Zausel. Klar, hab ich. Ich krame in meiner Hosentasche, den Blick weiter fest auf das Tacheles gerichtet, diesen Ort, der mich so viele Jahre in seinen Bann zog und nun nur noch eine leere Hülle ist, unbewohnt und verbarrikadiert. Um mich herum glatt gebügelte Cocktailbars, ein paar minderwertige Restaurants, Souvenirshops mit Postkarten und Ampelmännchen-Schlüsselanhängern. Pubcrawls und Fahradkorsos bestimmen das Straßenbild, ein paar Gruppen auf Klassenfahrt blicken verstohlen in Richtung der auf und ab stolzierenden Prostituierten. Jogger rennen vorbei und zelebrieren ihre in Form gegossene Bewegungsneurose.

Ich hab viel Zeit hier verbracht, meinen ersten Joint auf dem Hof des damals noch besetzten Gebäudes geraucht, eines meiner ersten Graffiti entstand hier, und auch meine Jugendliebe lernte ich hier näher kennen – an diesem Ort, der Zuflucht und Brutstätte zugleich war. Orte wie diesen braucht eine Stadt, will sie nicht enden wie Frankfurt am Main: gläsern, leblos, kalt.

Ich war 1997 aus Kreuzberg in den Ostteil Berlins gezogen und fühlte mich hier schnell heimisch, in diesem Haus, das auch für Touristen so anziehend war, obwohl es allem widersprach, was die meisten aus ihrer beschaulichen Kleinstadt gewohnt waren. Einmal Freaks begutachten – mit diesem Anspruch wandelte ein Großteil der Besucher durch die Etagen. Und Freaks gab es zuhauf hier, ohne dass diese jemals zu Karikaturen ihrer selbst verkommen wären.

„Träumste weiter oder haste jetzt ’n bisschen Kleingeld für mich?“ Verdattert schaue ich in die müden Augen des Obdachlosen, den Euro immer noch zwischen meinen Fingern. Verärgert über die vermeintlich sinnlos verschwendete Zeit schüttelt der Mann den Kopf und geht weiter. Ich lauf ihm ein paar Schritte nach, steck ihm das Geldstück in die Manteltasche und überquere die Straße, um über den massiven Stahlzaun auf den Hof des Tacheles zu klettern.

Partys, Kinos, Off-Theater

Ähnlich muss es das Künstlerkollektiv am 13. Februar 1990 gemacht haben, kurz bevor die Sprengung anstand. Das Haus wurde kurzerhand besetzt. Werkstätten wurden eingerichtet, Ateliers eröffnet, Partys gefeiert, oft tagelang ohne klar definierten Anfang und vor allem ohne Ende. Kinos entstanden, Off-Theateraufführungen wurden auf die Beine gestellt, Künstler wie Txus Parras, der im Torbogen eine Metallwerkstatt und -schule betrieb, bestimmten das Bild. Vor allem aber gab es keine Gedankenbarrieren. „Tacheles“, Klartext, der Name war Programm. Nachdem sich ursprünglich das Künstlerkollektiv diesen Namen als Gegenpol zur DDR-Vergangenheit gegeben hatte, ging der Titel irgendwann auf das Haus über.

Einer der ersten sogenannten Tachelesen, die ich näher kennenlernte, war der mittlerweile verstorbene Tommy Sixthousand. Er verbrachte seine Nächte meist in der damals noch existierenden und rege besuchten Erdbeerbar am Rosa-Luxemburg-Platz (einer der wichtigsten Planeten in meinem damaligen Sonnensystem „Mitte“), die der Schwester eines Freundes gehörte, und unterhielt uns mit Geschichten über seine sympathisch größenwahnsinnigen Kunstprojekte. So berichtete er uns zum Beispiel von seinem Plan, mehrere U-Boote in den Boden des Tacheles-Hofs einzulassen, diese durch Tunnel zu verbinden und dort Galerien und Bars zu platzieren. Als er unsere ungläubigen Blicke bemerkte, schleifte er uns nachts um drei aus unserer Stammbar in die Oranienburger Straße und rannte eine gefühlte Ewigkeit kreuz und quer über den Hof, steckte Flächen ab, beschrieb Einzelheiten, erschuf Visionen.

Das war die eigentliche Stärke dieses Hauses bzw. dieses Kollektivs von Menschen, die sich hier zusammengefunden hatten, um ein anderes Lebensmodell zu entwerfen: Visionen erschaffen. Nicht alle wurden realisiert, viele der Vorstellungen und Konzepte waren vielleicht gar nicht machbar. Aber weiterdenken, Ideen haben, Unmögliches probieren und manchmal auch umsetzen, das war es, was das Tacheles zu einem besonderen Ort machte: das Gefühl, andere Wege gehen zu können, theoretisch und praktisch.

Thommy Sixthousand nahm uns damals oft mit in seine Wohnung, die aussah wie die meisten Wohnungen kreativer Chaosköpfe: enorm groß, riesige Schreibtische, Bücher en masse, unaufgehängte Bilder und sehr wenige praktische Gegenstände. Dort saßen wir dann und hörten uns seine Ideen und Geschichten an, blätterten durch alte Fotobände, hörten psychedelische Musik oder starrten an die Decke und dachten nach – alles Dinge, die man kurz nach der Volljährigkeit so tun sollte, um den eigenen Horizont zu erweitern.

Mittes Abriss-Chic

Das gegenüber liegende Tacheles wurde in der Zwischenzeit immer bekannter und beliebter. Ähnlich wie die Rote Flora und ihre Begleiterscheinungen in Hamburg sorgte das Tacheles in Mitte für einen bestimmten flavour, einen Abriss-Chic. Ehemals als trojanisches Pferd in die Mitte der neuen Hauptstadt gesetzt, wurde es langsam zum Zugpferd eine Tourismusindustrie, die sich früher oder später gegen das Haus wenden musste. In den provisorisch errichteten Bars der Umgebung traf man ganz selbstverständlich äußerst gut betuchte Neuberliner aus München oder Hamburg, oft mit Besuch aus der alten Heimat im Schlepptau. Das Geld saß locker, und eine Menge Menschen, auch aus dem Tacheles, profitierten davon.

Die letzten Jahre verbrachte ich dann meistens im Café Zapata. Hier organisierten wir die ersten Partys, die inzwischen zum halbwegs professionellen Festival „Plötzlich am Bodden“ mutiert sind. Wir konnten uns damals im Tacheles ausprobieren, kennenlernen, Stilrichtungen entwickeln.

Als klar wird, dass das Tacheles nicht mehr zu retten ist, regt sich wenig Widerstand in der sogenannten künstlerischen Szene von Berlin. Auch die linke Szene, die sich auf der Straße zum Beispiel für den Erhalt der Liebig 14 oder des Schokoladens eingesetzt hatte, wollte nicht so recht. Zu unklar schien, was das Haus eigentlich wollte, vielen der Demogänger fehlte eine klare politische Ideologie – und sowieso, ein Gebäude voller Künstler, das war so manchem in diesen Kreisen suspekt.

Im Lauf der Jahre bot das Grundstück vielen Menschen eine Heimat. Heute ist man quasi wieder an einem ähnlichen Punkt wie 1990: ein leeres, ungenutztes Gebäude in der Mitte der Stadt – mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, dass zig Millionen verpulvert wurden und sich der ein oder andere eine goldenen Nase daran verdient hat.

Ich kicke eine leere Sprühdose über den Hof, scheppernd bahnt sie sich ihren Weg durch die Überreste der Metallkunstwerke. Es riecht etwas modrig, kaputte Scheiben und Dreck, wohin man auch blickt. Und wie so oft in Berlin heißt es nun auch hier: Ein Wrack ist ein Ort, an dem ein Schatz schlummert.