Häufig verurteilt

Deutsche Justiz wegen überlanger Verfahren kritisiert

FREIBURG taz ■ Deutschland wurde gestern nicht zum ersten Mal wegen eines überlangen Verfahrens verurteilt. Seit 1998 bekam die Bundesrepublik 22 Mal einen Rüffel vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg.

Der Fall Gräßer mit seinen politischen Implikationen ist dabei eher untypisch. Hier scheint es, dass Teile der Justiz das Verfahren gezielt in die Länge zogen, um dem Kläger zu schaden. In den meisten anderen Straßburger Urteilen ging es dagegen um den üblichen Gerichtsalltag.

So hatte der EGMR 2005 dem Türken Mustafa-Selim Sürmeli aus Stade 10.000 Euro Schadensersatz zugesprochen. Der Mann hatte nach einem Fahrradunfall Schadensersatz verlangt. Sein Zivilprozess, in dem auch verschiedene Gutachten erstattet wurden, lief damals bereits seit 16 Jahren und war immer noch nicht abgeschlossen.

Damals beließ es das Straßburger Gericht nicht bei der Kritik im Einzelfall, sondern stellte einen strukturellen Mangel im deutschen Recht fest. Der Bürger brauche ein Rechtsmittel, das zu einer Beschleunigung seines Verfahrens führt, forderte die Große Kammer des EGMR.

Justizministerin Zypries (SPD) hatte sich über das damalige Straßburger Urteil gefreut. Es brachte Rückenwind für einen Gesetzentwurf, den die Ministerin bereits im August 2005 vorgelegt hatte und der voraussichtlich nächste Woche im Bundeskabinett auf den Weg gebracht wird. Zypries will im deutschen Recht eine Untätigkeitsbeschwerde einführen, mit der sich Bürger wehren können, wenn es in einem Prozess nicht vorwärtsgeht. Das neue Instrument soll bei Gerichten aller Art zur Anwendung kommen.

Das Vorhaben war bisher umstritten. Der Deutsche Anwaltverein begrüßte es, Richterverbände lehnten es als überflüssig ab (siehe nebenstehendes Interview). CHRISTIAN RATH