Justiz auf Schleichtour

Jürgen Gräßer klagte 30 Jahre gegen die Stadt Saarbrücken. Diese verbot ihm einen Supermarktbau

VON CHRISTIAN RATH

Jürgen Gräßer war ein erfolgreicher Unternehmer. Bis zu dem Tag, als ihn die Stadt Saarbrücken unter Mitwirkung des damaligen SPD-Kommunalpolitikers Oskar Lafontaine über den Tisch zog. Gräßer versuchte, Schadensersatz zu bekommen. Über dreißig Jahre lang prozessierte er gegen die Stadt. Es war wohl längste Zivilprozess der deutschen Nachkriegsgeschichte. Wegen der „exzessiven“ Verfahrensdauer hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gestern Deutschland verurteilt.

Als junger Mann war Jürgen Gräßer ein erfolgreicher Autorennfahrer: In den 60er-Jahren fuhr er Tourenwagen- und Bergrennen. Mit dem so verdienten Geld wollte er Anfang der 70er-Jahre in Saarbrücken einen Verbrauchermarkt bauen. Es wäre der erste Supermarkt des Saarlandes gewesen.

Das Projekt war in der Stadt hoch umstritten, viele Geschäftsleute fürchteten um ihre Kunden und machten gegen das neue Einkaufszentrum mobil. Die damals zunächst von der CDU regierte Stadt sagte ihre Unterstützung zu. Gräßer begann zu investieren. Doch nach der Kommunalwahl 1974 wendete sich das Blatt. „Die FDP war die Lobby der Geschäftsleute und die bot an: Wir helfen Lafontaine ins Rathaus, wenn er den Supermarkt verhindert“, erinnert sich Bernd Sauber, Gräßers Anwalt. Tatsächlich wurde Lafontaine bald zum Bürgermeister, später zum Oberbürgermeister von Saarbrücken gewählt. Plötzlich wandelte sich die Haltung der Stadt gegenüber Gräßers Einkaufszentrum: Fast über Nacht verdoppelten sich die Erschließungskosten für das Areal von 2,5 Mio. Mark auf 4,5 Mio. Mark. Gräßer konnte und wollte das nicht aufbringen, der umstrittene Supermarkt war gescheitert.

Seit 1974 klagt Gräßer nun auf Schadensersatz. Nach sechs Entscheidungen auf unterschiedlichen Instanzen bis hin zum Bundesgerichtshof stellte das Oberlandesgericht (OLG) Saarbrücken im Jahr 1984 schließlich fest, dass der Trick mit den „vorgeschobenen“ Erschließungskosten eine „Amtspflichtverletzung“ war. Gräßer habe daher grundsätzlich Anspruch auf Schadensersatz. Doch wie viel Geld der Kaufmann bekommen sollte, ließ das Oberlandesgericht offen.

Jetzt begann der eigentliche Prozessmarathon erst. Gräßer wollte anfangs umgerechnet einige hunderttausend Euro für seine verlorenen Investitionen und einige Millionen Euro für den entgangenen Gewinn. Mit Zins und Zinseszins sowie den Prozesskosten wuchs die Summe aber immer schneller. Zum Schluss forderte Gräßer 108 Millionen Euro von der Stadt. Ein Gutachten der Unternehmensberatung Arthur Andersen bezifferte den Schadensersatz 1997 immerhin auf umgerechnet rund 22 Millionen Euro.

Kein Wunder, dass sich die Stadt weiter mit allen Mitteln wehrte, um nicht zahlen zu müssen. Am Ende mit Erfolg. Im November 2001, nach fünf weiteren Prozessrunden, stellte das OLG Saarbrücken fest, dass Gräßer keinen Pfennig von der Stadt bekommt, weil er den Supermarkt angeblich gar nicht hätte finanzieren können. Der Bundesgerichtshof lehnte 2003 die Revision Gräßers ohne Begründung ab. Das Verfahren mit seinen 18 Prozessen und Nebenprozessen hatte 29 Jahre gedauert.

So ein Verfahren dürfte es eigentlich nicht geben, entschied gestern der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Gräßer habe fast sein gesamtes Berufsleben mit dem Prozess zubringen müssen. Das Gericht sprach ihm deshalb 45.000 Euro Schadensersatz für die erlittene Belastung zu. Schon das Bundesverfassungsgericht hatte im Jahr 2000 das überlange Verfahren gerügt.

Für Anwalt Sauber ist dieser Prozess aber keine Folge einer überlasteten Justiz. „Die saarländische Justiz hat absichtlich immer wieder haarsträubende Fehlurteile produziert, die in den oberen Instanzen wieder aufgehoben werden mussten.“ Seiner Meinung nach wollte man den Prozess so lange hinauszögern, bis Gräßer aufgibt. Den saarländischen Richtern wirft er „Rechtsbeugung“ vor. Da gelte: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.“ Und er verweist auf zahlreiche politisch-justizielle Verquickungen im kleinen Saarland. So war der Präsident des Oberlandesgerichts Saarbrücken Roland Rixecker früher Justizstaatssekretär des Saarlands – unter Oskar Lafontaine, der zwischenzeitlich zum Ministerpräsidenten aufgestiegen war.

Niemand hatte wohl damit gerechnet, dass Gräßer den Prozess bis zum Ende durchhalten würde. Dass er ihn letztlich verlor, macht den Fall besonders tragisch. Gräser konnte die Gerichtskosten nicht mehr bezahlen, war nicht mehr kreditwürdig, wurde insolvent und verlor seine inzwischen aufgebauten neuen Firmen. Den Gesamtschaden beziffert Anwalt Sauber auf jetzt 400 Millionen Euro. Die will er in einem noch anhängigen Verfahren beim Oberlandesgericht Karlsruhe weiter gegen das Saarland einklagen. Der Prozess ist also doch noch nicht zu Ende.

Gräßer selbst zeigte sich gestern über die erhaltenen 45.000 Euro enttäuscht. „Da kämpft man jahrzehntelang und bekommt am Ende fast nichts.“