Apokalypse für Stahlkocher

LOBBYISMUS Die großen Verbraucher schüren Panik wegen der Energiereform. Am Dienstag fahren sie ihren milliardenschweren Sieg ein

VON BERNHARD PÖTTER, INGO ARZT
UND KAI SCHÖNEBERG

Wer Hans Jürgen Kerkhoff an diesem 19. März genau zuhört, bekommt fast Mitleid. Die Energiewende drohe „aus dem Ruder zu laufen“, sagt der Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl. Die Zukunft einer Branche stehe auf dem Spiel, erklärt der Chef der Lobbytruppe vor Journalisten in Berlin. Kerkhoff vertritt 70 Konzerne mit 90.000 Mitarbeitern. Er spricht vom drohenden Ende seiner Zunft – und von Stromkosten „auf Rekordniveau“. Wenn diese weiterstiegen, sei „eine international wettbewerbsfähige Stahlproduktion in Deutschland nicht mehr möglich“. Kerkhoff ist nicht der einzige Industrielle, der in den vergangenen Monaten auf die Tränendrüsen drückte: Aluhütten, Chemiekonzerne, Zementmischer, die stromintensiven Industrien insgesamt lobbyierte massiv für die weitere Befreiung von der EEG-Umlage zur Förderung erneuerbarer Energien. Ausnahmen für über 2.000 Firmen sollten weiter gelten.

„Wir müssen verhindern, dass wegen der hohen Strompreise die Industrie in Scharen aus Deutschland abwandert“, sagte irgendwann auch Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD). Nun ist klar: Die milliardenschweren Ausnahmen sollen bleiben. Bis kommenden Dienstag, wenn das Kabinett die EEG-Reform verabschieden will, soll die Sache auch zwischen Brüssel und Berlin geregelt sein. Die Kommission fürchtet nämlich Wettbewerbsverzerrungen. Aber wird schon: Die Lobbyisten haben dafür gesorgt, dass nicht sie die Kosten der Energiewende in Deutschland schultern müssen.

Allerdings: Die unter Stromkosten leidende deutsche energieintensive Wirtschaft ist eine Mär. Erfunden von Lobbyisten, bereitwillig aufgesogen von CDU, SPD und vielen anderen, die nicht für den Exodus von Firmen verantwortlich sein wollen. Dass bislang kein Unternehmen wegen der Energiekosten abgewandert ist, hat Gabriel jüngst im Bundestag zugegeben.

Beim EEG-Poker geht es um viel Geld: Laut einer Studie des Forums ökologisch-soziale Marktwirtschaft im Auftrag der Grünen-Fraktion summieren sich die Kosten der diversen Ausnahmen für die Industrie bei der Stromkostenberechnung, etwa von der EEG-Umlage, im Jahr 2014 auf 16,4 Milliarden Euro. Zahlen muss Otto Normalstromverbraucher. Zwei Drittel der Summe bringen Private und Gewerbebetriebe über höhere Strompreise auf. Der Rest: Steuerverluste – auch Verluste für die Allgemeinheit. Die Energiefresser zahlen einen geringen EEG-Obolus, für die Stahlbranche sind es gerade mal 300 Millionen Euro.

Wie Lobbyismus in Deutschland funktioniert, zeigen weitere Auftritte an diesem 19. März. Neben Kerkhoff redet auch ThyssenKrupp-Chef Andreas J. Goss: „Wenn die Energiekosten so weitersteigen, wird das unsere Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig schädigen.“ Scheint einleuchtend, kennt jeder von der Stromrechnung. Stimmt aber gerade für Thyssen und die Stahlindustrie nicht (siehe Grafik).

Wie gut es den Energieintensiven in Deutschland in puncto Energiekosten tatsächlich geht, zeigt auch der Emissionshandel mit CO2-Zertifikaten. Die Konzerne ächzen zwar chronisch, die Zertifikate sind aber ein prima Deal – dies zeigt eine Studie des Öko-Instituts für den WWF. Danach bekamen ThyssenKrupp, Salzgitter, ArcelorMittal, Shell, BP/Rosneft, BASF, Evonik Degussa, Heidelberg Zement und Dyckerhoff zusammen von 2005 bis 2012 Zertifikate im Wert von 8 Milliarden Euro zugeteilt – kostenlos. Ende 2012 besaßen sie handelbare Papiere im Wert von 1 Milliarde Euro – die Geschenke waren großzügig bemessen und wurden wegen der Krise einfach nicht genutzt. Von einem „Goldesel für die Unternehmen“ spricht WWF-Expertin Juliette de Grandpré.

„Ambitionierte Klimaziele, das zeigen Deutschland und andere erfolgreiche Ökonomien in Europa, sind nicht das Problem, sie können sogar Teil der Lösung sein“, sagt Thomas Fricke, Chefökonom der Umweltstiftung European Climate Foundation. Er kann dem Gerede von der drohenden Deindustrialisierung Deutschlands infolge hoher Energiekosten wenig abgewinnen. „Ja“, sagt Fricke, „seit Beginn des Jahrtausends haben sich die Industriestrompreise in Europa etwa verdoppelt. Aber so viel kann das der hiesigen Industrie nicht geschadet haben: Immerhin hat Deutschland seine Exporte in derselben Zeit verdoppelt.“

In Deutschland gibt es derzeit wenige Wissenschaftler, die die Energiewende für ein Wettbewerbshindernis halten. Dafür trommelt ein US-Analysekonzern namens IHS umso lauter. Dessen Vizechef: Daniel Yergin. Yergin verdient sein Geld mit fossilen Energieträgern. Das Mitglied des National Petroleum Council berät das US-Energieministerium zu Schiefergasvorkommen. Immer wieder preist Yergin die „Fracking“-Technik, die in den USA die Preise für Gas und Öl in den Keller getrieben hat, als Chance für Europa. Auch Deutschland solle auf Fracking setzen, um die „Energiewende wettbewerbsfähiger“ zu machen, fordert Yergin in einer derzeit vielzitierten Studie. Schönheitsfehler: Die Untersuchung wurde vom Bundesverband Deutsche Industrie und von Firmen finanziert, die von Fracking profitieren könnten: von Exxon, dem Ölriesen BP und Bayer.

Ohne Fracking gerieten die Deutschen „immer stärker ins Hintertreffen“ gegenüber den USA und China, prophezeit Yergin. Dass die Energiekosten im hiesigen verarbeitenden Gewerbe nur 2,1 Prozent des Produktionswerts ausmachen – also relativ wenig –, lässt er außen vor.

Korrekt, aber in der Studie nur am Rande vermerkt, prognostiziert Yergin die Entwicklung der Industriestrompreise in Deutschland: Sie würden künftig wegen der Erneuerbaren kräftig sinken – auch ohne Fracking.