Der Reichtum armer Provinzen

Eine deutsche Hochküche gibt es nicht, auch weil das Misstrauen der Regionalküchen untereinander nach wie vor zu groß ist. Dabei lockt die gemeinsame Deftigkeit

VON TILL EHRLICH

Wir Deutschen träumen gern von einer Einheit und wollen sie doch nicht wirklich. Und reden zuweilen von einer einheitlichen deutschen Küche, die wir nicht haben und nie hatten. Stellen wir uns vor, in jedem Restaurant gäbe es Spätzle, Grünkohl, Schweinshaxen, Eisbeine, Kohlrouladen und – die ostdeutsche Minderheit berücksichtigend – Soljanka oder Würzfleisch. Ein kulinarischer Albtraum. Dann doch lieber gleich das allgegenwärtige Allerlei aus Sushi, Tapas, Ravioli, Nasi Goreng, Schnitzel und Bratkartoffeln?

In Frankreich gibt es eine nationale Hochküche, die Haute Cuisine oder Grande Cuisine, die parallel zur Vielfalt der französischen Provinzküchen gepflegt und sublimiert wird. Die Grande Cuisine ist ohne die authentische Provinzküche nicht denkbar, hat aber in ihrer Virtuosität und Dekadenz wenig mit ihr gemein, auch wenn die meisten Starköche der Grande Nation ursprünglich aus Frankreichs Provinzen stammen. Eine vergleichbare, dem Alltag enthobene und entfremdete Hochküche hat sich in Deutschland nie bilden können, daher gibt es genau genommen auch keine nationale Küche. Vielmehr gibt es das Nebeneinander regionaler Speisen, die wenig miteinander teilen. Ob Leberknödel und Schäufele im katholischen Süden oder Brathering und Labskaus im protestantischen Norden – diese Gerichte sind so verschieden wie die Landstriche und Mentalitäten, die sie mit den Zeitläuften hervorgebracht haben. Und doch, einen einenden kleinen gemeinsamen Nenner gibt es durchaus: Derbheit und Deftigkeit.

Man kann diese Gerichte nicht endlos verfeinern und modernisieren, ohne dass ihr Charakter verloren ginge. Ein Klassiker der Haute Cuisine wie Ragout fin lässt sich immer irgendwie mit einem Spritzer Calvados oder Weißwein verfeinern. Doch ein bayrischer Schweinsbraten ist nicht fin und kein Schweinsbraten mehr, wenn er mit Sahne, Cognac, Madeira oder gar Zitronengras „verbessert“ wird. Ein kräftiger Schluck Bier oder eine Prise Kümmel aber können ihm den letzten Schliff verleihen. Und so ein Schweinsbraten duldet als Sättigungsbeilage kaum Alternativen. Seinen geschmacklichen Eigensinn und seine barbarische Kraft erlangt er am besten mit einem klebrigen Semmelknödel. Ein bayerischer Schweinsbraten mit Kartoffelgratin oder Rosmarinkartoffeln ist kein bayerischer Schweinsbraten mehr.

Die deutschen Regionalküchen leben von der Qualität ihrer Grundprodukte. Der Schweinsbraten kann nur authentisch schmecken, wenn das Fleisch gut ist. Am besten gelingt er von einem Freilandschwein, etwa aus einer alten Schweinerasse wie der Bunten Bentheimer oder dem Mohrenköpfle aus artgerechter Haltung. Das Fleisch muss langsam gewachsen sein und sollte von Fettäderchen und Muskelsträngen gut durchzogen sein. Fett ist beim Schweinsbraten ein fundamentaler Geschmackträger, der seiner Textur Saftigkeit und Eigengeschmack verleiht.

Und natürlich gehört auch die viel geschmähte Mehlsoße dazu! Sie ist zu einem Klischee für deutsche kulinarische Unkultur geronnen. Zu Unrecht. Die Bindekraft des Mehls mindert den Genuss nicht, wenn sie gekonnt eingesetzt wird. Das Mehl darf nur ein Hauch sein, der mit dem Bratenfett vorsichtig am Herdrand geschwitzt wird (Einbrenne) und dann mit heißer Brühe aufgegossen wird und langsam einer köstlichen Soße entgegenblubbert, die – weder glibberig noch dick – lediglich eine dezente Sämigkeit besitzen sollte. Nur muss der Mehlgeschmack geduldig auskochen können. Wenn die Mehlsoße endlich den Schweinsbraten bedeckt und vom Semmelknödel gierig aufgesogen wird, schimmert sie galant im Licht. Diese Art der Soßenzubereitung ist auch in der Haute Cuisine ein anerkanntes Basisverfahren, ganz zu schweigen von den hellen Soßen, sauces blanches, die selbstverständlich mit Einbrenne (roux) zubereitet werden und ohne die kein helles Ragout oder Frikassee denkbar wäre. Nur in Deutschland gilt die mit Mehl gebundene Soße als Zeichen von Barbarei.

Ein hermetischer Wesenszug ist vielen deutschen Speisen eigen, lange Zeit verhielten sie sich nahezu resistent gegenüber den kulinarischen Einflüssen der Fremde. So hat sich die schwäbische Küche bis heute fast unbeeinflusst gegenüber dem nahen Frankreich erwiesen. Spätzle mit Linsen etwa ist ein Gericht, in dem die Sättigung im Mittelpunkt steht, kaum die aromatische Feinheit. Die Küche in den deutschen Regionen war jahrhundertelang von Armut und Mangel geprägt. Oft gab es Hungersnöte, durch Kriege oder Missernten. Erst als in Preußen Mitte des 18. Jahrhunderts die Kartoffel den Bauern zum Anbau verordnet wurde, gingen die Hungersnöte langsam zurück.

Bis heute trägt die deutsche Regionalküche Züge, die vom Erfindungsreichtum geprägt sind, aus wenig ganz viel zu machen. Denkt man an typisch deutsche Grundprodukte, kommen einem zuerst Hülsenfrüchte wie dicke Bohnen und Linsen oder Kartoffeln und Kohl in den Sinn – allesamt nahrhafte Sattmacher. So hat sich in den wenigen Restaurants, die deutsche Wirtshausküche unplugged anbieten, hartnäckig der Grundsatz erhalten, dass nur viel gut sei. Wenn ich die Riesenportionen sehe, denke ich stets: Die wollen mich umbringen. Warum muss ein Semmelknödel größer sein als ein Tennisball?

Gegen Spätzle mit Linsen ist die deutscheste aller deutschen Speisen, Königsberger Klopse, geradezu weltoffen: Sardellen kommen in den Kalbsfleischklops, Kapern in die weiße Soße. Die Sardellen und Kapern sind mediterraner Herkunft. Beides verleiht der klopsigen Behäbigkeit nicht nur Würze, sondern auch Raffinement. Letztlich zeugen Königsberger Klopse von der einstigen Weltläufigkeit Königsbergs, des heutigen Kaliningrad. Der damals deutsche Ostseeraum war offenbar dem Fremden gegenüber aufgeschlossener als die Schwäbische Alb.

Waren die Königsberger Klopse damals eine delikate Ausnahme, ist heute kulinarische Weltläufigkeit die Norm: Die Küche in Deutschland ist die am stärksten globalisierte in Europa. Ob Tapas, Thai-Curry, Döner, Lasagne oder Risotto – heute beschäftigen uns die Speisen anderer Kulturen stärker als die eigenen. Diese Offenheit täuscht darüber hinweg, dass es eine vergleichbare Aufgeschlossenheit gegenüber den regionalen Kulturen innerhalb Deutschlands nicht gibt. Der Sachse misstraut dem Hamburger wie der Westfale dem Bayern. Letztlich geht es dabei auch um Gastlichkeit, die hier dem eigenen Nachbarn gegenüber verweigert wird. Und ohne echte Gastfreundschaft gibt es keine wirkliche Kochkultur.

Am deutlichsten wird das in der deutschen Gastronomie. Selbst Deutschlands Spitzenköche trauen der deutschen Küche und ihren Gästen nicht. So bietet Michael Hoffmann, Sternekoch und Inhaber des Spitzenrestaurants Margaux in Berlin mittags ein „Tagesgericht aus der regionalen Küche“ an. Hier finden wir auch die „Königsberger Klopse, version classique“. Doch der Zusatz soll die verwöhnte Klientel beruhigen: Der Klops wurde nach französischer Art interpretiert. Sprich „verfeinert“. Französische Kochkultur als Rückversicherung.

Abends, wenn im Margaux das Hauptgeschäft läuft, findet man freilich von regionalen Speisen kaum eine Spur. Da wird gekocht, was in der deutschen Edelgastronomie derzeit Konjunktur hat: klassische Haute Cuisine, im Sinne des Zeitgeistes angerichtet: viel Frankreich, ein bisschen Italien und eine Spur Asien. Und einige wenige regionale Produkte als Alibi, abgeschmeckt mit einer Prise Esoterik und Feng-Shui. Kostprobe: „Glattbutt gedämpft mit geliertem Badoit-Mineralwasser und geeistem Olivenöl. Ein Gericht, das die Zusammenführung der Grundelemente darstellen soll“.

Zurück in die Niederungen bodenständiger Köstlichkeiten wie Buttermilchplinsen, Dampfnudeln oder Hollerküchle. Wo findet man noch die Derbheit und Deftigkeit von Rippchen mit Kraut oder Kartoffelpuffern? Oder die Festlichkeit eines Rehrückens mit Spätzle oder einer gefüllten Kalbsbrust? Zu Hause. Dort, wo jemand versucht, – ohne Instantsoßen und Geschmacksverstärker – liebevoll und ohne Routine aus guten Produkten etwas zu kochen. Neulich war ich zu Gast bei Freunden, es gab Königsberger Klopse. Nach dem Rezept der Tante. Gemacht aus Biofleisch vom Bauernhof, baskischen Sardellen, italienischen Kapern und Petersilie vom Balkon. Es war besser als im Margaux.

TILL EHRLICH, 41, ist Autor in Berlin