Mit allen Sinnen zum Lebenssinn

Wo ist mein Platz in der Welt? Welche Arbeit erfüllt mich? Das Freie Jugendseminar Stuttgart will jungen Erwachsenen bei der Berufs- und Selbstfindung helfen. Was kann das einjährige Orientierungsstudium der anthroposophischen Lehrstätte leisten?

VON JANET WEISHART

„Nur wenn man den Bogen braucht, spannt man ihn. Hielte man ihn dauernd gespannt, würde er zerbrechen. Nicht anders ist es mit dem Menschen“, lehrte der griechische Historiker Herodot. Die 22-jährige Sofia Piola* war im Sinne Herodots so ein „zerbrochener Bogen“. Bis sie das Freie Jugendseminar Stuttgart (FJS) betrat. Dort erkannte die gebürtige Italienerin, warum sie innerlich so kaputt war. Sie hatte ihre Ängste jahrlang unterdrückt, stattdessen blind funktioniert. Sie, der als Tochter einer Konsulatsmitarbeiterin alle Möglichkeiten offen standen, konnte ihren Weg darum nie finden: Sie stolperte in ein Wirtschaftsstudium, Abbruch, in ein Marketingstudium, Abbruch, strauchelte. „Ich wurde depressiv“, erzählt sie.

Kamen früher eher junge Menschen mit der Frage, ob sie einen klassisch-anthroposophischen Beruf wie Waldorflehrer oder Erzieher ergreifen sollen, ans Seminar, charakterisiert Leiter Marco Bindelli die Teilnehmer heute so: „Sie sind auf der Suche nach dem Sinn ihres Lebens. Sie suchen eine echte Aufgabe in der Welt. Sie sind sensibel, künstlerisch begabt und wach.“ Elementare Fragen treten also in den Hintergrund und an ihre Stelle Fragen nach dem Sein. Das beobachten Psychologen vermehrt bei Jugendlichen in den Industrieländern. In der Folge erleben junge Menschen eine Sinnkrise oder sind orientierungslos. Und dann? Drei Prozent der deutschen Schulabgänger entscheiden sich beispielsweise für ein Freiwilliges Soziales oder Ökologisches Jahr. Andere gehen ins Ausland. Wieder andere führt der Weg zum FJS, welches sich von bereits genannten Angeboten unterscheiden möchte: Es will den Alltag nicht vermittelt, sondern ausschalten. Durch die Distanz zur Welt sollen Seminaristen zu sich selbst finden.

Der Weg zum FJS – gleicht er einem Eingeständnis, den Anforderungen der Gesellschaft nicht genügen zu können? Auf jeden Fall wollen die Seminaristen nicht nur ein weiteres Zahnrad im globalen Wirtschaftsuhrwerk sein.

Sich zur Sinnsuche ein Jahr lang dem Alltag und damit der Verantwortung zu entziehen, klingt für viele nach Luxus – in philosophischer wie finanzieller Hinsicht. Lehre, Unterkunft, Verpflegung, Studienreisen kosten für ein Jahr etwa 6.600 Euro. Ein zu stolzer Preis für Suchende? Leiter Bindelli verneint. Es gebe begrenzt Stipendien. Am Seminar seien alle sozialen Schichten vertreten, auch Erwachsene ohne Bezug zu Waldorfpädagogik, wie die 21-jährige Verena Sciesielski. Nach dem Abi an einer staatlichen Schule absolvierte sie ein soziales Jahr, half Behinderten und verzweifelte trotzdem an der Zukunft. „Anthroposophische Ärzte empfahlen mir dann das Seminar. So ein Quatsch, dachte ich“, erzählt die Stuttgarterin. Die Skepsis – bei ihr gegenüber der Anthroposophie, bei den Eltern gegenüber den Kosten – ist verflogen. Verena ist froh, hier zu sein.

Froh wie 27 andere Seminaristen aus aller Welt, die gerade in dem gelben Haus wohnen. Ihnen will das FJS ganz persönliches Werkzeug für die komplexe Welt mitgeben: Initiativkraft, Flexibilität, Fantasie, Mut, Teamfähigkeit – auf denen jede Ausbildung beruhen könnte. Die Lehrstätte ist seit ihrer Gründung 1964 bewusst künstlerisch ausgerichtet. „Die Kunst ist für uns ein wirksames Mittel, sich selbst zu finden und zu gesunden“, erläutert Bindelli. Den Sinn des Lebens mit den Sinnen erfassen – für Seminaristen heißt das: Zeichnen, Singen, Eurythmie. Oder Theosophie, eine Lehre, die das Wesen des Menschen erörtert. Zur Berufsorientierung sollen zwei Praktika dienen, beispielsweise bei einem biologisch-dynamisch arbeitenden Landwirt oder in der Forschung.

Finden Jugendliche am Ende ihren Beruf, ihre Berufung? Sicher nicht immer innerhalb eines Jahres. Sofia* hat noch kein Berufsziel. Sie sagt über die Zeit: „Ich habe verstanden, dass es wichtig ist, aktiv zu leben und mich nicht leben zu lassen.“ Verena meint: „Ich habe mein Selbstbewusstsein wieder gefunden.“ Ob sie nun Theaterpädagogik oder „etwas mit Natur“ studiert, bleibt offen. „Ich habe keine Angst, ins Leben zu gehen“, meint sie – und bleibt aber trotzdem am Seminar. Beide Mädchen werden ihren Aufenthalt am FJS um vier Monate verlängern, wie 40 Prozent aller Teilnehmer. Beide müssen die Mosaiksteinchen, die sie hier erhalten haben, erst einmal zu einem neuen Leben zusammensetzen. Immerhin, etwa 60 Prozent der Schüler schaffen das in einem Jahr am FJS und beginnen dann eine Ausbildung oder ein Studium. Sie suchen aber weiter Antworten. Bindelli sagt: „Die Schüler kommen mit 100 Fragen zu uns und gehen mit 1.000 neuen.“ Vielleicht liegt die eigentliche Aufgabe des FJS gar nicht darin, jungen Menschen bei der Berufsfindung zu helfen. Sondern, sie im Fragen zu bestärken. Sie in sich selbst zu festigen und ihnen zu mehr Akzeptanz zu verhelfen.

*Name von der Redaktion geändert