Ruhe zwischen den Stürmen

„Ich gehe als Linke durch“, sagt Andrea Nahles. „Aber mit meiner Kritik stehe ich in der Mitte der SPD“

AUS BERLIN JENS KÖNIG

„Das ist ein guter Kompromiss“, sagt SPD-Chef Kurt Beck über die Gesundheitsreform. „Wir haben die kleinen Leute vor Belastungen geschützt.“

Das Werk der großen Koalition sei sogar mehr als ein Kompromiss, meint Vizekanzler Franz Müntefering – eine Reform nämlich, die „die Qualität der medizinischen Versorgung sichert und die Kranken nicht zusätzlich belastet“.

„Diese Gesundheitsreform ist eine revolutionäre Neuregelung“, jubelt der SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck.

Nehmen wir zum Vorteil dieser drei Herren einmal an, dass sie ihre Worte selbst nicht glauben. Beck, Müntefering und Struck verstehen nicht allzu viel von Gesundheitspolitik, dafür aber umso mehr von Macht. Die drei Spitzensozis wissen, dass der Kompromiss mit der Union nur unter einem einzigen Gesichtspunkt akzeptabel ist: Er hat, vorerst, die große Koalition gerettet. Gemessen an der Zielstellung der SPD jedoch ist das Ergebnis nur als lausig zu bezeichnen. „Jeder Monat, der verhandelt wurde, hat weniger sozialdemokratische Gesundheitspolitik gebracht“, sagt die SPD-Linke Andrea Nahles. „Das vorliegende Ergebnis ist viel schlechter, als es in den Eckpunkten vor den Sommerferien vereinbart worden war.“

Das, was Nahles äußert, ist mit Sicherheit sozialdemokratische Mehrheitsmeinung. „In Berlin mag ich als Linke durchgehen“, sagte sie gestern zur taz. „Aber mit meiner Kritik am Gesundheitskompromiss stehe ich in der Mitte der Partei.“ Beck, Müntefering und Struck wissen das. Trotzdem setzen sie darauf, dass das Gesetz im Bundestag die Zustimmung der meisten SPD-Abgeordneten finden wird. Und mit dieser Annahme dürfte das Führungstrio nicht einmal verkehrt liegen. Die Frage, warum das trotz der innerparteilichen Kritik so ist, lässt sich am besten mit einer Zahl beantworten: dreiunddreißig. 33 Prozent erzielt die SPD in der jüngsten Umfrage von Infratest dimap – fünf Prozentpunkte mehr als noch im September. Damit sind die Sozialdemokraten das erste Mal seit vier Jahren wieder stärkste Partei. Die Union hingegen sinkt auf ein historisches Tief: Nur noch 30 Prozent der Bürger würden sie wählen – vier Prozentpunkte weniger als im Vormonat.

Dieser Stimmungswechsel hat vor allem zwei Ursachen: zum einen den selbstzerstörerischen Streit zwischen der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten der Union über die Gesundheitsreform, zum anderen die Geschlossenheit und Ruhe – manche sagen Friedhofsruhe –, die SPD-Chef Beck seiner Partei seit Monaten verordnet hat. Jeder Sozialdemokrat also, der das Gelingen der Gesundheitsreform ernsthaft in Frage stellt, stellt zugleich die Machtfrage. Wer in der Partei aber will Beck schon offen attackieren? Wer will den sozialdemokratischen Aufwärtstrend gefährden? Wer will Verantwortung für das Scheitern der große Koalition übernehmen, in einer Situation, in der die SPD, bei aller Erholung, für Neuwahlen nicht gut gerüstet ist? Die Antwort: niemand.

Nahles spricht dieses Dilemma offen aus: „Der Gesundheitskompromiss hat zwar einen sachpolitischen Kern. Aber vor allem anderen ist er eine machtpolitische Frage.“

Diese machtpolitische Frage wird auch machtpolitisch entschieden. Umso bemerkenswerter ist die Front der innerparteilichen Kritiker. Sie reicht von Linken bis hin zu diversen Gesundheitspolitikern. An ihrer Spitze stehen Andrea Nahles und Karl Lauterbach. Nahles verkörpert dabei die einflussreiche Flügelstrategin mit dem nötigen fachpolitischen Verstand. Lauterbach dagegen steht für den Typus des klugen Gesundheitsexperten, dem in der Medienöffentlichkeit nicht zuletzt wegen seines Professorentitels und seiner Fliege große Glaubwürdigkeit zugesprochen wird. Die SPD-Führung fürchtet dieses Duo. Sie bearbeitet die beiden seit Donnerstag in Einzelgesprächen.

Die Kritik von Nahles und Lauterbach am Gesundheitskompromiss ist in der Sache unmissverständlich und hart. Sie bezieht sich im Kern auf zwei Punkte der Einigung: die Privilegierung der privaten Krankenkassen, die nicht in den Gesundheitsfonds einbezogen werden. Und den pauschalen Zusatzbeitrag von acht Euro, den die Kassen von den Versicherten kassieren können, ohne Härtefälle prüfen zu müssen. Nahles nennt das eine „Kopfpauschale für Hartz-IV-Empfänger“. Lauterbach zur taz: „Diese Regelung ist für Sozialdemokraten eigentlich nicht akzeptabel.“

Andererseits fällt auf, dass die beiden die Fraktion nicht etwa zum kollektiven Widerstand aufrufen. Sie legen sich nicht einmal auf ihr eigenes Nein im Bundestag fest, obwohl man getrost davon ausgehen kann, dass sie das Gesetz ablehnen werden. Nur Nahles wagt sich mit der Bemerkung vor, sie könne sich „zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorstellen“, mit Ja zu stimmen.

Lauterbach, Nahles und die anderen Kritiker in der SPD gehen davon aus, dass die Gesundheitsreform kommen wird. Beck und Struck werden sie durchpeitschen. „Der Preis, den die SPD bezahlt, ist hoch“, sagt ein Mann aus der Parteispitze. Der Frust darüber wird sich dann an einem der nächsten Großprojekte entladen – fast schon egal, ob bei den Unternehmsteuern, der Bahnprivatisierung oder der Hartz-IV-Reform.