Theater im idealen Freiraum

Die Jugendtheatergruppe B.E.S.T. bespielt mit ihrer aktuellen Produktion das ehemalige Gefängnis im Blockland

Den Freiraum jenseits des Alltagsgetöses, den muss man erst mal finden – als Voraussetzung für Kunst. Also auf nach Westen, dann immer Richtung Norden. Wo die alte Telefonzelle schon längst keine schützenden Scheiben mehr besitzt und der Germania Grill zum Bier einlädt. Die Bahngleisgrenze unterschritten, vom „Kleingartenverein Blüh auf“ empfangen. Vorbei an brach liegenden Weiden, zugewucherten Wegen und Gräben. Dort, wo die Stadtgemeinschaft ins feuchte Blockland ausfranst und Bremen ins Niedersächsische verebbt, öffnet sich das schwere Eisentor der seit zwei Jahren leer stehenden Justizvollzugsanstalt. In der Gefängnisaula erwacht ein Dutzend 17- bis 22-Jähriger Jugendlicher aus dem Schlaf der Vernunft – hinein in den Traum der Kunst.

Ein Rütteln, Schütteln, Krampfen, Tänzeln bringt die Körper rollengerecht in Positur, während eine deutlich Übergewichtige ihr Problem herausbrüllt: „Ich würde gern mitmachen, ich kann wirklich toll aussehen, auch abnehmen.“ Die Gruppe aber wendet sich ab, lockt auch das Publikum fort von der um Respekt, Nähe, Anerkennung Bettelnden. So schonungslos startet „ZellTeilung oder … die Ballade von der A-Zugehörigkeit“, die aktuelle Produktion von B.E.S.T., wie sich seit 1990 Bremens erstes schulübergreifendes Theater nennt.

Der Titel bedeutet, dass Leiter Karl-Heinz Wenzel und Theaterpädagogin Kerstin Schulze per Zeitungsanzeige, Plakat und Internet (www.bremen.de/info/best) um alle Jugendlichen werben, egal auf welche Schule sie gehen, sogar egal, ob sie überhaupt noch auf eine Schule gehen. Hauptsache mitmachen. Selbsterfahrung. Lern- und Wahrnehmungsprozesse entwickeln, alles auf Absicht und Wirkung hinterfragen.

Symbolträchtige neun Monate lang wird geprobt, ein bis vier Mal die Woche. In der Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt und erst recht bei der Improvisation mit der Theatergruppe wird Jahr für Jahr ein Problem definiert. 2006 ist es das Paradox vom Unbehagen in der Kultur. Denn aller Freiheitslust zum Trotz braucht jeder den Blick der anderen, um sich als lebendig wahrzunehmen, braucht jeder den anderen, um Sex zu haben, Steuererklärungen auszufüllen, einen Doppelpass zu spielen. Dafür passt man sich in Gruppen ein: Familie, Clique, Gesellschaft, Fußballteam, WG.

B.E.S.T. widmet sich diesem teilweise hilflosen Kampf, Kontakte zu knüpfen, Bindungen aufzubauen. Im rot gestreiften Kleid robbt eine Darstellerin die Treppe hoch, um sich bis zur Selbstaufgabe einem Mann anzubieten. Eine andere klopft an Steinen herum, verschenkt einen an den attraktivsten Jungskörper, der ihn zerdeppert. Schon tragisch, wenn der Liebesschwur mit einem Stein untermauert wird – und komisch, wenn der Junge aus lauter Eitelkeit den Wert des Steins nicht versteht. Während ein anderer in einer “Sommernachtstraum“-Paraphrase den Stein beglückt empfängt, daraufhin immer noch einen von der Liebenden erhält, bis er unter der Zuneigungslast zusammenbricht. Nur die Pummelige des Anfangs hat nach einem dramatischen Zusammenbruch ein wenig Erfolg: Sie wird ins Gruppengefüge gekuschelt.

B.E.S.T. will, laut Wenzel, „Theater als lebensbegleitende kulturelle Aktivität entdecken“. Das geht über herkömmliches Selbstdarstellungstheater im Jugendjargon deutlich hinaus, entfernt sich ambitioniert vom Text, nähert sich einer überbordenden Theatralität, spielt also mit der Kombination unterschiedlicher Zeichensysteme – wie Licht, Raum, Kostüm, Körperlichkeit, Musik, Tanz. Verdichtung und Überhöhung in Kürzestszenen – statt schlichtem Realismus. Kraft, Gewalt, Lust aufeinander kulminiert immer wieder in wilden Choreografien. Finden sich mal einige Darsteller zusammen, laufen sie mit einem „Na ja, ich muss jetzt los“ schnell wieder auseinander – als Bild der Unverbindlichkeit des Gruppengefüges.

Schade nur, dass sich die Szenesplitter nicht addieren. Sie lodern kurz auf und verlöschen, eh man sie richtig wahrnehmen konnte. Das Publikum läuft den Spotlights in den Zellen und Gängen hinterher, ist mittendrin, bleibt aber außen vor. Auch, weil die Szenen verbindenden Assoziationen sich nur selten vermitteln. Das Gefängnis hingegen: ein idealer Freiraum. Der ehemalige Ort einer Zwangsgemeinschaft als Experimentierbühne der Zentrifugal- und -petalkräfte, die Menschen als Paare oder Gruppen binden – und auseinander treiben. Jens Fischer

Aufführungstermine: 9., 10., 11., 12., 13. 14. Oktober, jeweils 20 Uhr in der JVA Blockland, Carl-Krohne-Straße. Ein kostenloser Shuttle-Bus steht jeweils von 19.15 bis 19.45 Uhr am Straßenbahndepot Gröpelingen.