Stillstand auf dem Aktenberg

Fast zwei Jahre ist es her, dass eine Mutter die Schule anzeigte, die ihren behinderten Sohn misshandelt haben soll. Doch die Staatsanwaltschaft widerspricht dem Vorwurf der „Verschleppung“

von Jan Zier

Am Ende ist es nur eines von vielen Verfahren, das derzeit liegen bleibt. Lydia Richter – selbst noch neu bei bei der Staatsanwaltschaft Bremen – mag sie schon gar nicht mehr so ganz genau zählen. Mindestens zwei neue Fälle kommen Tag für Tag auf ihren Schreibtisch, das sagt jedenfalls die amtliche Statistik. Und einige Fälle bleiben jahrelang liegen, ehe sie zur Verhandlung vor Gericht kommen. So wie dieser beispielsweise.

Gut zwei Jahre ist es her, da wurde der damals sechsjährige Junge in der Grundschule Rönnebeck regelmäßig in einen kleinen Raum verbracht, der vormals als Toilette diente. Weil er den Unterricht störte, wie die zuständige Pädagogin seinerzeit zur Begründung sagte. Mehrmals täglich sei er dort hingeschickt worden, musste sie einräumen. Die Behörde verwies auf „unglückliche Umstände“ wegen eines Umbaus, widersprach aber der Vorstellung, der Junge sei „eingesperrt“ worden.

Der Junge ist zu 80 Prozent schwerbehindert. Er leidet unter schweren Sprachstörungen, ist in seiner Entwicklung zurückgeblieben, galt zudem als verhaltensauffällig. Seine Klasse in der Grundschule an der Hechelstraße war eine Integrationsklasse.

Am 3. Januar vergangenen Jahres bereits hat seine Mutter Strafanzeige gegen die Schule gestellt – wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen. „Doch alles steht auf Stillstand“, sagt die Mutter. „Die Staatsanwaltschaft hat sehr lange gebraucht, um überhaupt irgendeinen Zeugen zu befragen.“ So habe es bis April 2006 gedauert, ehe der Junge erstmals vernommen wurde.

Der Anwalt der Familie, Philipp Koch, erhebt unterdessen schwere Vorwürfe gegen die Bremer Staatsanwaltschaft. Das Verfahren sei seit „extrem langer Zeit“ anhängig, doch passiert sei kaum etwas. „Man könnte das als Verschleppung sehen“, sagt Koch – und stellt die Vermutung an, „dass versucht wird, den Fall in die Verjährung zu retten“.

Lydia Richter, die ermittelnde Staatsanwältin, weist solche Anschuldigungen weit von sich. Von Verschleppung könne keine Rede sein, sagt sie, „der Fall wird Ernst genommen. Es wird sich darum gekümmert.“ Mehrere Staatsanwälte seien bereits mit dem Fall befasst gewesen. Doch wann Anklage erhoben werden könnte, vermag auch Richter noch nicht zu sagen. Sie versichert jedoch, „dass die Sache in naher Zukunft zum Abschluss gebracht wird“.

824 neue Fälle sind im vergangenen Jahr bei jedem der 45 Bremer Staatsanwälte aufgelaufen, sagt Dietrich Klein, der Leitende Oberstaatsanwalt in Bremen. Das seien zwar mehr als in Niedersachsen, aber weniger als etwa in Bayern, Baden-Württemberg oder dem Saarland. Bremen sei bei der Belastung seiner Staatsanwälte zwar „im vorderen Bereich“ – aber keineswegs an der Spitze. Auch der Vorwurf der Verschleppung sei keineswegs von der Statistik gedeckt: Gerade einmal zwei Monate liege ein Fall derzeit bei der Staatsanwaltschaft Bremen – im Durchschnitt jedenfalls. „Damit liegen wir sehr, sehr gut“, sagt Klein.

Rechtsanwalt Koch will den Hinweis auf die Arbeitsbelastung der Staatsanwaltschaft nicht gelten lassen. Schließlich gehe es im Fall des Jungen um einen „ungeheuerlichen Vorwurf“, nicht etwa um eine Sachbeschädigung. Verfahren wie dieses müssten Vorrang genießen.

Das Kind ist noch immer in traumapsychologischer Behandlung, hat nach Angaben seiner Mutter aus den Vorfällen „schwere Schäden“ davongetragen. Das belege auch ein psychologisches Gutachten „sehr eindeutig“.

Mittlerweile geht der Junge nicht mehr auf seine alte Schule, sondern auf die Förderschule „Am Wasser“. Dort, sagt seine Mutter, „werden höhere Anforderungen an ihn gestellt“ als ehedem auf der Grundschule Rönnebeck. „Dennoch ist er jetzt ein unauffälliger Schüler.“