In Russland regiert die Angst
: Kommentar von Klaus-Helge Donath

In letzter Zeit war es um Anna Politkowskaja etwas ruhiger geworden. Zwar berichtete die engagierte Journalistin weiterhin über Folter, Entführungen und Morde im Kaukasus, doch ihre Leserschaft blieb auf die Zeitung Nowaja Gaseta beschränkt. Aus dem staatlichen Fernsehen und Rundfunk war die mutige Reporterin längst verbannt. Auch ihre Bücher wollte niemand mehr veröffentlichen. Die Angst vor Vergeltung sitzt tief in Russland: Niemand lehnt sich mehr aus dem Fenster, man schaut weg und verfällt in Gleichgültigkeit. Mit Politkowskaja ist das andere, das moralische Russland nun endgültig gestorben.

Das Kalkül des Kreml ist aufgegangen. Die Verbrechen im Nordkaukasus werden verschwiegen und verdrängt oder mit Stabilität gleichgesetzt. Auch der Westen hat sich davon einlullen lassen: Das Thema ist von der mit Russland gemeinsamen Agenda verschwunden. Stattdessen herrscht im Westen Angst – nicht zuletzt vor der Rache eines neuen, selbstbewussten Moskau, das den Energiehahn zudrehen könnte, wenn es wegen seiner menschenverachtenden Politik im Innern und gegenüber seinen Nachbarn kritisiert wird. Auch die westliche Geschäftswelt spielt mit und verharmlost wider besseres Wissen. Sie hofft in der boomenden und hungrigen russischen Wirtschaft auf einen satten Extraprofit.

Dabei wird übersehen, dass auch im Vergleich zu früher sattere Bürger noch kein stabiles Russland machen: Denn Staat und Gesellschaft führen wieder jeweils ihr Eigenleben. Die politische Kaste operiert im Interesse von Machterhaltung und Umverteilung mit vielfältigen Feindbildern, seien es Tschetschenen, Georgier oder wer auch immer. Vergessen ist, dass die Sowjetunion einst durch das Schüren ethnischer Konflikte und einen plötzlich sinkenden Ölpreis zugrunde ging.

Doch Moskau hat kein historisches Gewissen. Unter Wladimir Putin ist ein System von Willkür und Gewalt entstanden, Verrohung hat die gesamte Gesellschaft heimgesucht. Dagegen ist Putin selbst letztlich machtlos. Sollte sich das eines Tages entladen, wird in Russland der Mob die Macht an sich reißen. Und im Vergleich dazu wird der Kremlchef dann in der Tat ein „lupenreiner Demokrat“ gewesen sein.