Das sind die Protestschwaben

STUTTGART 21 90 Prozent der Stuttgart-21-Gegner sind zu zivilem Ungehorsam bereit, ergibt eine neue Studie. Sie zeigt auch: Staatsversagen spielt dabei eine große Rolle

„Die Menschen sind mit der Software der Demokratie unzufrieden“

BEWEGUNGSFORSCHER DIETER RUCHT

VON MARTIN KAUL

Demokratieverdrossen, äußerst konfliktbereit und neugrün – das sind einer neuen Studie zufolge viele der Protestschwaben, die seit Monaten gegen das umstrittene Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 auf die Straße gehen. Eine empirische Umfrage, die am Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde, erlaubt erstmals den Fakten-Check jenseits der Klischees. Forscher am Wissenschaftszentrum Berlin hatten am 18. Oktober während einer Montagsdemonstration 814 DemonstrationsteilnehmerInnen nach ihren Einstellungen befragt, um Näheres über das Spekulationsobjekt „Protestschwaben“ zu erfahren.

Das Ergebnis: Ein deutlich angeschlagenes Vertrauen in die Repräsentativdemokratie ist die Folge des monatelangen Streits über den Bahnhof. „Die Menschen sind nicht mit der Demokratie an sich, sondern mit der Software der Demokratie unzufrieden“, sagte der Bewegungsforscher Dieter Rucht. Der Umfrage zufolge haben 92 Prozent der Demonstrierenden kein Vertrauen mehr in die Landesregierung. 87 Prozent sprechen der Bundesregierung ihr Misstrauen aus. Und: 90 Prozent der Protestierenden in Stuttgart sind deshalb bereit, für ihre Ziele auch zivilen Ungehorsam, also Straßenblockaden oder Besetzungen, durchzuführen. „Es gibt in einem spezifischen Sinne eine Radikalisierung“, sagte Rucht. „Allerdings nicht im Sinne von Steine werfenden Chaoten, sondern von der fast durchgängigen Bereitschaft zu zivilem Ungehorsam.“

Die Umfrageergebnisse zeigen auch, dass staatliche Entscheidungen signifikante Mobilisierungsschübe verursacht haben: So wird den Stuttgart-21-Gegnern häufig vorgeworfen, viel zu spät erst politisch aktiv geworden zu sein. Die bundesweit wahrgenommenen Großdemonstrationen hatten erst mit dem Baubeginn im Februar die breite Öffentlichkeit erreicht. Die Umfrage zeigt aber, dass der überwiegende Teil der Demonstrierenden bereits weitaus früher aktiv war. Demnach gingen 31,2 Prozent von ihnen nach der Ablehnung des Bürgerentscheids über das Projekt im Jahr 2007 erstmals auf die Straße. Zusätzlich sei nach dem massiven Polizeieinsatz im Stuttgarter Schlossgarten am 30. September ein enormer Vertrauensverlust entstanden, sagt der Soziologe Simon Teune. Über die Hälfte der Befragten hätte kein Vertrauen mehr in die Ordnungshüter.

Die Umfrageergebnisse bestätigen auch den Stimmungserfolg der Grünen. Während bei der letzten Bundestagswahl immerhin knapp jeder Zehnte der Protestler noch CDU und 18 Prozent SPD gewählt hatten, kämen diese Parteien heute noch auf 0,1 beziehungsweise 2,3 Prozent. Dreiviertel der Demonstrierenden würden dagegen bei Bundestagswahlen heute die Grünen wählen.

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