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„Die Medien sind ein Desaster“

WIKILEAKS Mit seinen jüngsten Enthüllungen zum Irakkrieg machte das Internetportal weltweit Schlagzeilen. Kritiker mahnen, der Wikileaks-Chef gefährde Menschenleben. Was will Julian Assange?

Julian Assange

■ geboren 1971, ist australischer Computerprogrammierer, Hacker und Internetaktivist. Er ist der Gründer und Sprecher der Whistleblower-Webseite Wikileaks, die auch geheime Dokumente über die Militäreinsätze der USA in Afghanistan und Irak veröffentlichte, am Wochenende etwa 400.000 Geheimakten der US-Armee zum Irak. Assange hat Physik und Mathematik studiert. Kürzlich ist ihm in Schweden der Vorwurf der Vergewaltigung gemacht worden.

INTERVIEW JOSEBA ELOLA

taz: Herr Assange, es gibt Leute, die werfen Ihnen vor, eher ein Aktivist als Journalist zu sein. Stört Sie das?

Julian Assange: Ich bin Redakteur und das Sprachrohr unserer Publikationen. Seit ich 25 war, bin ich in Journalismus involviert, da habe ich an dem Buch „Underground“ mitgearbeitet. Angesichts des Zustands des Journalismus derzeit empfinde ich es aber eher als beleidigend, Journalist genannt zu werden.

Warum?

Weil der Journalismus missbraucht wird.

Was genau meinen Sie damit?

Die Art, wie die Journalisten vom Krieg berichten. Sie sind Teil des Krieges, weil sie nicht hinterfragen und sich gegenüber der Regierung feige anbiedern.

Dank Wikileaks wächst die Sammlung Ihrer Feinde. Wer ist Ihr größter Feind?

Wenn es darum geht, wer am meisten dafür ausgibt, unsere Schritte zu verfolgen, ist es das US-Militär. Abgesehen davon, haben wir auch sehr viele gute Freunde dort. Es gibt ein Team von vermutlich rund 120 Leuten, die in dem sogenannten Wikileaks War Room arbeiten und sich 24 Stunden mit uns beschäftigen. Sie werden geführt von einem Herrn namens Gate, Verteidigungsminister der USA. Sie sind hauptsächlich Mitglieder des militärischen Geheimdienstes und des FBI.

Welche Feinde haben Sie noch?

Die Banken. Die meisten legalen Angriffe auf uns kamen von ihnen. Und aus China gab es welche, nachdem wir kritisches Material über Aktivitäten der Regierung veröffentlicht hatten.

Fürchten Sie um Ihr Leben?

Es gibt Leute, darunter Daniel Ellsberg, der 1971 die Papiere des Pentagons über den Vietnamkrieg veröffentlichte, die sagen, dass mein Leben in Gefahr sei.

Und was glauben Sie?

Ich glaube, dass es ein kleines, aber nicht signifikantes Risiko gibt, ja. Was es gibt, ist die erhebliche Gefahr einer Strafverfolgung und Verhaftung. Sie sind dabei, einen Spionagefall gegen mich und andere Mitglieder der Organisation zu stricken und gegen Leute, mit denen wir in den USA Kontakt hatten. Das FBI hat Leute in Boston und anderen amerikanischen Städten besucht, die mit uns in Kontakt standen. Laut meinen Quellen hat die Finanzdirektion Australiens die Erlaubnis gegeben, die Kommunikation unserer Leute zu überwachen. Die schwedische Regierung ist von US-Geheimdiensten unter Druck gesetzt worden, wie mir meine eigenen Quellen berichteten. Auch die Regierung in Island wurde von den USA unter Druck gesetzt, laut meinen Quellen dort und dem US-Senat. Und den isländischen Botschafter haben sie sogar aufgefordert, sich zu vergewissern, dass Island nicht zu einem Fluchtort für Julian Assange wird.

Glauben Sie, dass die Anschuldigungen, die in Schweden gegen Sie erhoben wurden, etwas damit zu tun haben?

Das wissen wir nicht. Ich möchte darüber lieber in einem anderen Moment sprechen.

Daniel Domscheit-Berg, Ihr ehemaliger Pressesprecher in Deutschland, der die Organisation verlassen hat, sagt, dass Sie wie der Staatsanwalt, der Richter und der Scharfrichter zugleich agierten. Er sagt, Sie würden Kritik nicht tolerieren.

Daniel Domscheit-Berg wurde aus vielen ernsthaften Gründen entlassen. Wie viele Menschen, die entlassen werden, hat er entschieden, diejenigen zu kritisieren, die ihn beschäftigten. Wir glauben, dass Vertrauen und integres Handeln die essenziellen Komponenten unserer Arbeit sind. Aus diesem Grund habe ich beschlossen, Domscheit-Berg nicht zu kritisieren.

Ihre Entscheidung, in den Dokumenten zu Afghanistan Namen von afghanischen Informanten zu veröffentlichen, hat eine Staubwolke aufgewirbelt. Bill Keller, Chefredakteur der New York Times, hat kritisiert, Sie hätten Menschen in Lebensgefahr gebracht?

Bei der Veröffentlichung von 76.000 von insgesamt 90.000 sortierten Dokumenten gibt es vieles, über das man sprechen muss. Diese Dokumente enthüllen Uhrzeit, Datum, Ort und Umstände des Todes von 20.000 Menschen. Punkt. In den zwei Monaten seit der Veröffentlichung ist kein afghanischer Zivilist wegen der Veröffentlichung der Dokumente zu Schaden gekommen. Dies ändert nichts daran, dass dies sehr ernste und interessante Themen sind, und aus diesem Grund haben wir eins von je fünf Dokumenten nicht veröffentlicht. Die Tatsache, dass Bill Keller seine Zeit damit verbringt, über dieses Thema, das nicht in Relation zu einem einzigen Toten steht, zu sprechen, verglichen mit den Themen, die zum Tod von 20.000 Menschen geführt haben und den Tod von Hunderten in den vergangenen zwei Monaten, zeigt, wie schwer sich die New York Times damit tut, das US-Militär zu kritisieren.

Alan Rusbridger, Chefredakteur des Guardians, hat uns vor ein paar Tagen, nicht ohne Ironie, gesagt, dass die traditionellen Medien den Investigativjournalismus aufgegeben hätten, weil er sehr teuer und nicht besonders sexy sei. Stimmen Sie ihm zu?

Ja, sie haben den Investigativjournalismus fast ganz aufgegeben, das stimmt. Sein Preis ist hoch: Man macht sich Feinde, er verursacht Kosten, um juristische Attacken abzuwehren, und es entstehen Offensiven gegen die Interessen der Redakteure. Ich glaube, dass die Leser Investigativjournalismus wollen, aber die Kosten pro Wort sind hoch, verglichen mit denen anderer Formen des Journalismus, insbesondere dem von Spezialinteressen subventioniertem Journalismus.

Sie glauben, dass die meisten der großen westlichen Medien von Spezialinteressen subventioniert sind?

Das ist nicht genau das, was ich sagen wollte, obwohl das auch ein Faktor ist. Ich bezog mich auf die tausende Millionen von Dollar, die die US-Armee jedes Jahr für die Kommunikation von offiziellen Angelegenheiten ausgibt, um damit Inhalte wie Videos, Fotos und Nachrichten zu produzieren, die die Journalisten letztlich gratis bekommen. Das gilt auch für Inhalte von Unternehmen und der Regierung.

Glauben Sie, dass die digitale Revolution und Initiativen wie Wikileaks einen unabhängigen Journalismus hervorbringen werden?

Es kann sein, dass wir zu einem System kommen, in dem es eine größere Kontrolle gibt, um die Pressefreiheit zu unterdrücken. Es kann aber auch sein, dass wir zu einem neuen Standard dessen gelangen, was die Menschen erwarten und verlangen – Material, das die Mächte offenlegt. Und ein kommerzielles Umfeld, in dem sich so etwas lohnt, und ein legales Umfeld, in dem diese Arbeit geschützt ist.

„Es gibt Leute, die sagen, dass mein Leben in Gefahr ist. Ich sehe das Risiko als nicht signifikant“

Sind Sie optimistisch?

Wir sind am Scheideweg zwischen diesen beiden Zukünften. Deswegen ist es so wichtig und so interessant, darin involviert zu sein. Mit unseren derzeitigen Aktionen bestimmen wir das Schicksal der internationalen Medien in den kommenden Jahren. Jeder Mensch hat einen einzigartigen Weg im Leben, aber ich hatte in den vergangenen Jahren eine wahrhaft einzigartige Erfahrung. Ich habe mehr gefilterte Dokumente gelesen als vermutlich sonst wer auf der Welt. Mit sehr unterschiedlichen Themen. Natürlich gibt es Leute, die viel gelesen haben, aber vielleicht nicht von so vielen und so unterschiedlichen Organisationen der Welt. Ich habe mehr interne Filterungen über mich ergehen lassen, und ich habe eine Organisation geleitet, die viel attackiert wurde von gefährlichen, geheimen und neurotischen Organisationen. Bevor ich darin involviert war, dachte ich, ich wüsste einigermaßen gut, wie die Welt funktioniert, ich habe auch zuvor schon wichtige Dinge gemacht. Aber nichts hat mich auf diese Realität, auf die ich dann gestoßen bin, vorbereitet. Meine Perspektive hat sich sehr verändert seitdem.

Was haben Sie denn gesehen?

Es gibt zwei Dinge, die mir einfallen. Das erste ist der Tod der Zivilgesellschaft. Schnelle Finanzströme über elektronische Überweisungen, die schneller sind als politische oder moralische Sanktionen und die Zivilgesellschaft zerstören auf der ganzen Welt. Die Wirtschaftsmacht erlaubt Opportunisten in jeder Gesellschaft, die an das globale Finanzsystem angeschlossen ist, Reichtümer auf unmoralische Weise zu erlangen und diese mit dunklen und schwer aufzuspürenden Finanzmechanismen an weit entfernte Orte zu bringen. In diesem Sinne ist die Zivilgesellschaft tot, sie existiert nicht mehr, und es gibt eine große Klasse von Leuten, die das weiß und davon profitiert.

Wie …?

Die zweite Sache, die ich gesehen habe, ist, dass es einen enormen und wachsenden versteckten Überwachungsstaat gibt. Jeder Staat, der überleben möchte, muss sich einem der drei Anbieter von Geheimdiensten und bewaffneten Systemen anschließen. Diese sind das westliche Imperium, das ehemalige sowjetische Imperium und China, das noch kein Imperium ist, sich aber in diese Richtung bewegt. Der versteckte Sicherheitsstaat, der sich über das westliche Imperium ausbreitet, hat sein Gravitationszentrum in den USA. Die wirtschaftliche Macht der USA ist seit den 1990er Jahren um 250 bis 300 Prozent gestiegen, trotz des Kollapses des Finanzsystems. Um ein konkretes Beispiel zu geben – und hier zitiere ich Dana Priest, die zweifache Pulitzerpreisträgerin von der Washington Post –, es gibt 817.000 Personen, die in Top-Secret-Angelegenheiten beschäftigt sind.

Und diese Strukturen sind hauptsächlich dazu da, den Kapitalismus zu retten?

Die großen Unternehmen haben diesen versteckten Sicherheitsstaat und das politische System so sehr durchdrungen, dass sie den gesamten angehäuften Wert der Teilnehmer mitnehmen. Die internationalen Medien sind ein Desaster. Wir sind in einer guten Position, um politisch und historisch relevantes Material zu bekommen. Wir veröffentlichen es und sehen, welche Medien ein Echo geben und mit wie viel Ernsthaftigkeit. Wir sehen außerdem die Anstrengung, mit der die Informationen, die wir geben, unterdrückt werden. Mein Fazit ist, dass das Umfeld der internationalen Medien so schlecht und verzerrt ist, dass es uns besser gehen würde, wenn es keine Medien geben würde.

© EL PAÍS S. L.

Übersetzung aus dem Spanischen von Frauke Böger

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