Durchs Castor-Land

REISEFÜHRER Nächste Woche fährt der Atomtransport gen Norddeutschland. Die taz ging deshalb entlang des schönsten seiner möglichen Wege auf Erkundungstour

Spezialitäten: Kurz nachdem der Castor bei Wörth am Rhein die französisch-deutsche Grenze überquert, kommt Grötzingen. Die örtliche Marihuanaplantage („Grötzinger Gras“) nahm die Polizei zwar 2009 hoch, die Privatbrennerei im Ortskern aber ist weiter in Betrieb. „Likör und Schnaps sind das Beste, was man aus Obst machen kann“, sagt Brenner Willi Raupp. Vorsicht: Der preisgekrönte, aufwändigste und teuerste Schnaps, der Quittenbrand, hat es in sich!

Trinken: Kuschelige Fachwerkhäuser, schmale Gassen und nur wenige Schritte bis zur frisch sanierten Mainbrücke ins benachbarte Sommerhausen, wo es verdammt viele Weinstuben gibt. Dort kann man sich nicht nur betrinken, sondern auch sättigen: Blaue Zipfel geben das Ambiente für die zünftige Bratwurst. Wer nicht trinken will (was die falsche Entscheidung wäre, der Wein ist ziemlich gut), kann ins Torturmtheater gehen (es ist nicht klar, was wichtiger ist, der Turm oder das Tor). Vorsicht: Seit beim Kreisligaderby Aufsteiger FC Winterhausen kürzlich den TSG Sommerhausen besiegt hat (Torschütze: ein Sommerhäuser!), ist die Stimmung zwischen den Gemeinden nicht gut.

Literatur: Der Castor kommt fast da vorbei, wo eine der erfolgreichsten deutschen Jugendbuchautorinnen der vergangenen 30 Jahre lebt. Sie hat sich mit dem Thema Atom einen Namen gemacht: Gudrun Pausewang. In Schlitz und Umgebung spielen ihre bekanntesten Romane, „Die letzten Kinder von Schewenborn“ (1983, Thema: Atomkrieg) und „Die Wolke“ (1987, Thema: Atomunfall). „Die Verwendung realer Orte macht die Gefahr eines Atomunfalls deutlicher“, sagt Pausewang zu ihren Gründen, „Die Wolke“ in Schlitz anzusiedeln. Den Einwand, ihre Bücher hätten einer ganzen Generation von Kindern und Jugendlichen schlaflose Nächte bereitet, lässt die heutige 82-Jährige nicht gelten. „Ich habe auch heitere Bücher geschrieben. Und dass es nach Tschernobyl keinen ähnlichen Unfall gab, heißt nicht, dass es in Zukunft keinen geben wird.“ Dennoch würde sie „Die Wolke“ heute nicht mehr genauso schreiben. „Ich würde die Frage ‚Wohin mit dem Atommüll?‘ in das Buch aufnehmen“, sagt sie.

Kunst: Absolutes Highlight ist „Ralfboro“, Deutschlands einziges Raucherdenkmal am Hauptbahnhof, wo das Caricatura-Museum für komische Kunst steht. Die Skulptur stammt von taz-Zeichner ©TOM, Modell stand taz-Autor Ralf Sotscheck. „Das Beste am Modellstehen war das Rauchen“, sagt Sotscheck. Ferner: das Museum für Sepulkralkultur, wo es um Tod und Totenkult geht, das Fridericianum und hin und wieder die Documenta.

Geheimtipp: Sarah Henke, die junge Küchenchefin des Restaurants „Planea“, will „Erlebnis“ bieten: „Meine Kunden sollen staunen wie kleine Kinder vor Bauklötzen“, sagt sie. Und wer käme bei Kopfsalat im Reagenzglanz, Parmesan-Eis oder Gänsestopfleber mit Apfel und Müsli nicht ins Staunen? Ein Drei-Gänge-Menü gibt’s ab nur 44 Euro! Vorsicht: Nicht von der Frage „Sind Sie eingestimmt?“ irritieren lassen – damit ist nur das Amuse-Gueule vor der Vorspeise gemeint. Vor dem Hauptgericht (z. B. Strauß, Gamba, Blumenkohl) kommt ein Granité von Whiskey Sour. Alles sehr lecker!

Nightlife: Gleich neben dem „Planea“ liegen zwei traditionsreiche Bars der linken Szene: Der „Theaterkeller“ (für Insider „T-Keller“), seit 45 Jahren ein Treffpunkt, in dem heute 18-Jährige Geburtstage mit Punkrock feiern, der älter ist als sie selbst. Vorsicht: Fotografieren nicht erwünscht! Im selben Gebäude ist das „Café Kabale“, das auch schon 20 Jahre auf dem Buckel hat und wo wochenends Housepartys laufen. Ganz ohne alternatives Flair: die Discothek „Savoy“. Vorsicht, Tanzstangen!

Übernachten: Gleich neben dem Polizeipräsidium am Rand der City das „Hotel Leine“. Schlicht-eleganter Bau, gepflegte Zimmer. Ein Schlaftrunk (alles, nur kein „Göttinger Pils“!) kommt schnell per Zimmerservice. Vorsicht: Wer Pech hat, muss nachts ein defektes Pinnöppel in der Heizung reparieren.

Essen: Kann man im Ratskeller, Niedersachsens ältestem Gasthof. Aber nicht am Nachmittag, dann ruht Celle. Oder im Lokal „Schweine Schulze“, dem laut Eigenwerbung „geheimen Rathaus“, wo man gut mit dem Chef Udo Röder plauschen kann. Oder mit dessen Kunden, örtlichen Größen wie dem Unternehmer Burchard Führer (Chef der „Führergruppe“) oder Exkanzler Gerhard Schröder. Für den kleinen Hunger „Eisenmann’s Wurstbraterei“ im Fachwerkhaus. Vorsicht: Die „Celler Bockwurst“ schmeckt wie jede andere!

Shopping: Celle bietet viele Einzelhandelsgeschäfte – und bald vielleicht ein Einkaufszentrum, was die eingesessenen Händler aber nicht so gut finden. „Darüber wird seit 30 Jahren debattiert“, winkt Führer ab. Was daraus wird, weiß nicht mal der „Schweine Schulze“-Chef.

Wandern: In der Ellerndorfer Heide, wenn sie blüht (tut sie aber gerade nicht), sonst durch die endlosen Rübenfelder um Uelzen. Hier sitzt Nordzucker, Europas zweitgrößter Zuckerproduzent (nur Südzucker ist größer). „Für Rüben wird nur der beste Boden verwendet“, weiß der pensionierte Rübenmanager Jürgen Rudnick. Vorsicht bei der Rübenernte: Verletzungsgefahr!

Architektur: Weder Tief- noch Kopfbahnhof, aber schön ist der von Friedensreich Hundertwasser gestaltete Uelzener Bahnhof. Vorsicht: Besichtigung der Hundertwasser-Toilette kostet extra!

Meiden: Castor-Endstation, Dannenberg Ostbahnhof. (Angeber: Es gibt weder West- noch Hauptbahnhof!) Dafür hält Dannenberg, was sein trister Perron verspricht: Direkt am Marktplatz eine Bauruine, verlassene Läden, Händler, die aus lauter Verzweiflung ihre Waren mit dem Castorprotest bewerben („Naturkost – Kraft für Widerstand“), die aber längst nicht alle gegen den Castor sind („da gibt es ja auch viele Arbeitsplätze“), das „Café Ambiente“, das mit „Torten von Landfrauen“ lockt, wo man auf Nachfrage aber eingestehen muss, dass das Angebot während der Kartoffelernte arg eingeschränkt ist, Kioskbesitzer, die einem ihre Lebensgeschichte erzählen („Ich bin etwas verrückt, darauf bin ich auch stolz“), ein Jugendzentrum, in dem, wie die 16-jährige Julia S. versichert, „nur 30-Jährige sind“, eine „Erlebnisausstellung „Sei (k)ein Frosch“, die mit Froschquaken vom Band nervt, in der Nähe die „Erlebnisstraße deutsche Einheit“, auf der nichts los ist – kurz: Diese öde Gegend taugt allenfalls für ein Atommüllendlager. Achtung: unbedingt meiden!

VON FRAUKE BÖGER
UND DENIZ YÜCEL (TEXT UND FOTOS)