LESERINNENBRIEFE
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Kein schlechtes Druckmittel

■ betr.: „Popanz Multikulti“, taz vom 18. 10. 10

Ein Fachkräftemangel wäre wohl das einzige Motiv für die Politik in Deutschland, in bessere Bildung zu investieren, und insofern kein schlechtes Druckmittel. Viel bequemer, aber gleichwohl volkswirtschaftlich unsinnig ist es, die fehlenden Fachkräfte aus dem Ausland abwerben zu wollen. Dort fehlen sie dann, während hier erhebliche Teile der Bevölkerung mangels Qualifikation beschäftigungslos bleiben werden. Der unbequeme, aber zukunftsweisende Weg gegen Fachkräftemangel: Alle Kinder lernen Deutsch und gehen zur Schule, auch Ältere sind zur Weiterbildung bereit, und Arbeitgeber beschränken sich bei der Bewerberauswahl nicht länger auf maximal dreißigjährige Männer mit langer Berufserfahrung und dem Wunsch nach einer Fünfzigstundenwoche.

FRANK SCHNIEDER, Osnabrück

Abschied vom Jugendkult

■ betr: „Kontinent der Angst“, taz vom 27. 10. 10

Daniel Bax bekämpft ein populistisches Klischee – die „Überfremdung“ Europas durch Zuwanderung – mit einem anderen populistischen Klischee, der angeblich „drohenden Vergreisung des Kontinents“. Was ist eigentlich so schlimm an einer potenziell schrumpfenden Bevölkerung? Deutschland ist eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Erde. Bevölkerungswachstum, angeblich Voraussetzung für Wirtschaftswachstum, heißt auch: weitere CO2-Produktion, weitere Flächenvernutzung, weitere Bodenversiegelung etc. und damit Verschlechterung der Lebensqualität für alle. Der Tatsache, dass die Bevölkerung insgesamt älter wird, muss neben Einwanderung auch mit Strukturreformen begegnet werden. Zum Beispiel indem wir uns vom Jugendkult auf dem Arbeitsmarkt verabschieden, ernsthaft das Bildungssystem umbauen und die gesetzliche Renten- und Krankenversicherung in eine Volksversicherung umwandeln, zu der alle beitragen. CLAUDIA PINL, Köln

Die Probleme unserer Zeit

■ betr.: „Kontinent der Angst“, taz vom 27. 10. 10

Behauptungen wie „Europa ist auf Einwanderer angewiesen“, sind beliebig und treffen nur zu, wenn alles so bleiben soll wie es ist, das heißt Europa bleibt reich und Afrika beispielsweise arm. Die These „ohne Bevölkerungswachstum kein Wirtschaftswachstum“ ist ebenso dümmlich wie banal. Wäre sie richtig, wäre sie noch lange nicht gerecht und würde auch „ökonomisch“ zu noch mehr Überbevölkerung führen. Apropos Überbevölkerung: ohnehin ein Thema, welches die taz nur mit heißen Fingern anfasst, weil diese ja vorwiegend von Armen und Unterdrückten in der Dritten Welt herbeigeführt wird. Die von Bax als Argumentationshilfe zu mehr Einwanderung gebrauchten sogenannten Demografen beschäftigten sich vor nicht allzu langer Zeit mehr mit Überbevölkerung als mit Bevölkerungsrückgang in Europa – nur eben nicht in der taz.

Wenn besagte Demografen und Wirtschaftsbosse sich in einem Boot bezüglich Einwanderung befinden, fühlen sich Bax und taz wohl in guter Gesellschaft? Speziell die Wirtschaftsbosse sind, versteht sich, ein objektiver Gradmesser für die Richtigkeit von Einwanderung bei aufsteigenden Beschäftigungszeiten. Einfallsloser und opportunistischer geht’s kaum noch. Neu auch der taz-Impetus, dass die Wirtschaft in Europa weiter wachsen muss; fehlt nur noch der Zusatz „der Umwelt zuliebe“.

Kurzum: Die Probleme unserer Zeit sind vor allem globale Überbevölkerung und ungehemmtes Wirtschaftswachstum, und die verkehrt Bax ins Gegenteil. ALBERT REINHARDT, STRALSUND

Kein Erkenntnisgewinn

■ betr.: „Der Club der russischen Versager“, taz vom 23. 10. 10

Die russische Gesellschaft ist konfrontiert mit einer extremen Männersterblichkeit und mit einem massiven Suchtproblem, zwei miteinander verknüpften sozialen Problemen mit massiven Auswirkungen, und worauf konzentriert sich Klaus Helge Donath? Auf Potenzprobleme der „russischen Versager“, die er genüsslich zu einem Yellow-Press-Artikel, leider ohne Erkenntnisgewinn, aufbläst.

Die angeführten „zunehmend selbstbewussteren Frauen“, die die Männer zu depressiven und impotenten Witzfiguren degradieren, wurden mir schon Ende der 80er Jahre von Moskauer Taxifahrern in glühenden Farben geschildert. Mit einer differenzierten Analyse der (post-)sowjetischen Umbrüche hat das nichts zu tun.

Der Verweis auf die niedrige durchschnittliche Lebenserwartung der Männer verschleiert das Ausmaß der Katastrophe: Wenn tatsächlich, wie in manchen Studien geschätzt, eine halbe Million Todesfälle jährlich direkt auf Alkoholmissbrauch zurückzuführen sind, dann erwarte ich von der taz eine ernsthafte Analyse und eine Auseinandersetzung mit der strukturellen Gewalt, der russische Männer unterliegen.

Und schließlich: Angesichts einer knappen Million HIV-positiver RussInnen, der Abneigung russischer Männer gegen Verhütung, der weitgehenden Verantwortung der Frauen für die Verhütung und einer enorm hohen Abtreibungsrate von ca. 129 Abtreibungen auf 100 Geburten (2008) wäre es wirklich spannend, ob die postsowjetische Öffnung Russlands neben der pornification der Öffentlichkeit auch zu einer Erweiterung sexueller Repertoires von Individuen oder Paaren jenseits des penetrierenden Geschlechtsverkehrs geführt hat. Dann wäre nämlich die allseitige, von Donath so beklagte Schlappheit vielleicht mit einer (lustvollen) Chance, auch für den russischen Muzhik verbunden. MONIKA ROSENBAUM, Münster