Hamburger Szene
: Die Würfel sind gefallen

Vor wenigen Tagen habe ich erfahren, dass ich sehr schlau sein muss. Meine Nachbarin Lara hat es mir gesagt. Lara ist zehn Jahre alt, diesen Sommer auf die weiterführende Schule gekommen und seither in ihrem Selbstbild etwas getrübt. Sie hat eine Empfehlung für die „Gesamt-, Real- oder Hauptschule“ bekommen. Dass sie nun mit einer echten Abiturientin zu Mittag aß, hat echte Ehrfurcht in ihr geweckt.

Seit die Empfehlungen ausgesprochen sind, ist es auch zwischen Lara und unserer Nachbarin Lisa nicht mehr wie zuvor. Die beiden kennen sich seit frühester Kindheit. Sie sind zusammen in den Kindergarten gegangen und haben anschließend in der Grundschule jahrelang nebeneinander gesessen. Nun aber darf Lisa aufs Gymnasium gehen und Lara nicht. Seither sind die beiden nicht nur räumlich getrennt. „Lisa ist eben schlauer“, sagt Lara, seufzt und nimmt eine Gabel Spaghetti zu sich. Diskussion zwecklos.

Natürlich habe ich versucht, ihr das auszureden. Ich habe von meinem damals schlechten Verhältnis zu meiner Englischlehrerin berichtet, das eine wirklich miese Abschlussnote zur Folge hatte. Dann habe ich die politische Debatte referiert, die sich um die Einführung von Einheitsschulen dreht. Hören wollte Lara das alles nicht: Für sie sind die Würfel gefallen. Da fällt ihr plötzlich etwas ein, und ihr Gesicht hellt sich auf. In der letzten Mathearbeit, erzählt sie, hat sie die beste Note der ganzen Klasse geschrieben. „Die anderen“, schlussfolgert sie, „sind eben nicht so schlau wie ich.“ Und isst zufrieden auf. EVA SIMON