PUTIN 1: LINKE WIE RECHTE SCHONEN DEN RUSSISCHEN PRÄSIDENTEN
: Menschenrechte sind eben doch teilbar

Warum erscheinen nur ein paar Dutzend Unentwegter vor der russischen Botschaft, wenn es gilt, gegen die Untaten der russischen Armee in Tschetschenien zu protestieren? Erschöpfung der Demonstrationsenergien? Wohl kaum, denn gegen Bush und seine Nahostpolitik fällt das Demonstrieren entschieden leichter. Hängt diese Zurückhaltung damit zusammen, dass es für die Linken gilt, die Kräfte gegen den „Hauptfeind“, den Welthegemon USA, zu konzentrieren? Eine Erklärung, freilich keine hinreichende.

Während des Kalten Krieges wurde die Sowjetunion vom Gros der (west)deutschen Linken zwar nicht mehr als „Vaterland aller Werktätigen“ angesehen – aber doch als Friedenskraft, die nur ihre Einflusszone verteidigte. Noch die Besetzung Afghanistans wurde als „aggressive Defensive“ interpretiert. Freiheitsbewegungen im Ostblock bis hin zur Solidarność wurde misstraut. Waren das nicht Reagans Freunde? Und Oppositionelle wie Solschenizin erfuhren so gut wie keine Unterstützung.

Diese Einstellung hat den Zerfall des Sowjetreiches überdauert. Denn Loslösungsprozesse ehemals zur Union gehörender Territorien auch nach 1991, auch innerhalb der neu begründeten russischen Föderation, wurden nur unter negativen Vorzeichen gesehen. Die oft reaktionären oder kriminellen Elemente, die beispielsweise am Unabhängigkeitskampf von Tschetschenien teilnahmen, galten den Linken als Beweis dafür, dass dieser Kampf keine Legitimität besaß. Menschenrechte sind eben doch teilbar.

Und die rechten Konservativen – hat sie ihr altes antisowjetisches Engagement nicht dazu gebracht, gegen den russischen Terror in Tschetschenien massiv Front zu machen? Keineswegs. Wo Investitionen, Märkte und reicher Profit winken, wird der Ruf nach den Menschenrechten nur sotto voce vorgebracht. Hinter dieser Zurückhaltung stehen darüber hinaus sehr alte konservative Motive. Das „heilige Russland“, das gerade, von Putin gefördert, wiederersteht, wird als Bastion gegen den allgemeinen Wertezerfall gesehen. Und der anspruchslose, gläubige Muschik, ist er nicht natürlicher Verbündeter im Kampf gegen Anspruchsdenken und Besitzstandswahrung bei uns? CHRISTIAN SEMLER