Niemand erwartet eine Aufklärung

Weder Verwandten noch Kollegen der ermordeten Journalistin wurde von offizieller Seite Beileid ausgesprochen

MOSKAU taz ■ Mehrere tausend Menschen machten sich gestern auf den weiten Weg zum Friedhof Troekur am Moskauer Stadtrand, wo die Trauerfeier für Anna Politkowskaja stattfand. Die Journalistin und Menschenrechtlerin war am Wochenende in ihrem Moskauer Wohnhaus kaltblütig ermordet worden.

Der Andrang war so groß, dass nur ein kleiner Teil der Trauernden in der Friedhofshalle Platz fand. Die Miliz hatte das Friedhofsgebiet weiträumig abgesperrt und auch die Busverbindung war ohne einen Hinweis eingestellt worden. Unter den Trauergästen befanden sich auffallend viele Vertreter westlicher Botschaften. Der Kreml und das offizielle Moskau blieben der Feier indes fern. Nur ein stellvertretender Kulturminister verirrte sich auf den Friedhof.

Dass der Kreml auch nach drei Tagen noch keine Stellungnahme zum Mord an der couragierten Journalistin abgegeben hat, werteten viele Trauergäste als eine indirekte Parteinahme für die Täter. Wladimir Putin sicherte am Montag in einem Telefonat US-Präsident Bush zwar eine zügige Untersuchung zu, schwieg sich aber gegenüber der Öffentlichkeit zu Hause aus. Weder Verwandten noch Arbeitskollegen sprach das offizielle Moskau Beileid aus. Mangelnde menschliche Größe und Schwäche sei es, die der Kreml an den Tag lege, meinte die 65-jährige Ingenieurin Walentina Iwanowna in der Schlange. Andere Wartende nicken zustimmend. Viele Trauergäste fürchten sogar, in Russland würden bald noch dunklere Wolken heraufziehen. Kaum jemand glaubt, dass das Verbrechen jemals aufgeklärt wird.

Nach einem Bericht der Boulevardzeitung Komsomolskaja Prawda gehen die Ermittler von fünf Tätern aus. Sie alle hätten sich verdächtig verhalten und seien von verschiedenen Kameras gefilmt worden. Vier der fünf Flüchtigen sollen Politkowskaja vor der Tat beschattet haben. Zwei Frauen gehörten zu der Gruppe, eine soll vor dem Haus Wache gestanden haben, während zwei Mittäter in einem Fluchtwagen warteten.

Eine abenteuerliche Verschwörungsvariante verbreitet ausgerechnet die Regierungszeitung Rossiskaja Gaseta. Das Blatt vermutet den vor dem Kreml ins Ausland geflohenen Oligarchen Boris Beresowski hinter dem Mord. Beresowski war Putins Ziehvater, fiel dann aber beim neuen Kremlchef in Ungnade. Der in London lebende Multimillionär wolle mit dem Mord dem Ansehen des Kremlchefs Schaden zufügen, meint das Regierungsblatt.

KLAUS-HELGE DONATH