Protest der Biedermänner

Monatelang recherchieren Zehdenicker Schüler zu ihrem Stolperstein-Projekt. Dann wehren sich die Bürger. Warum sich die Havelstadt schwertut, an ihre verfolgten jüdischen Mitmenschen zu erinnern

VON KONRAD LITSCHKO

Die Schüler des Zehdenicker Oberstufenzentrums hatten alles so schön vorbereitet – Recherchen im Stadtarchiv, den Besuch des ortsansässigen jüdischen Friedhofs, eine Fahrt ins Landeshauptarchiv nach Potsdam und nach Berlin ins Zentrum Judaicum. Das Ziel ihres Projekts: Auch in ihrer Kleinstadt, 60 Kilometer nördlich von Berlin, sollten Stolpersteine an die jüdischen Mitbewohner erinnern. Neun Monate forschten die angehenden Fachabiturienten dazu in 15 Biografien von ermordeten Juden aus ihrer Kleinstadt, 60 Kilometer nördlich von Berlin. Von einem „unglaublichen Engagement“ ihrer Schüler spricht Ulrike Neumann, die Betreuerin des Projekts.

Über das Internet hatten sie von der Stolperstein-Aktion des Künstlers Gunter Demnig erfahren. Der 59-jährige Kölner will mit Pflastersteinen an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Messingtafeln sollen dabei vor den ehemaligen Wohnstätten verlegt werden.

Doch Ende September erhielt das Stolperstein-Projekt unerwartet Gegenwind – von der Zehdenicker Bevölkerung. Als sich die Schüler auf dem Marktplatz versammelten, um über ihr Projekt zu informieren und für Spenden zu werben, ernteten sie meist Unverständnis. Warum werde immer nur der jüdischen Opfern gedacht? Es gebe schließlich auch andere verfolgte Gruppen und auch deutsche Opfer des Zweiten Weltkriegs. Die Schüler mussten sich Diffamamierungen bis hin zu antijüdischen Ressentiments anhören. Anwohner weigerten sich, die Stolpersteine vor ihren Häusern verlegen zu lassen. „Die kamen völlig fertig wieder von ihrer Veranstaltung“, erinnert sich Ulrike Neumann, betreuende Lehrerin des Projekts, an die Reaktionen ihrer Schüler.

Die Stadtoberen hingegen wiegeln ab. „Es gehört doch zu einem Projekt dazu, dass man nicht nur auf Bejahung stößt“, sagt Dirk Wendland von der Stadtverwaltung. Die Stadt habe jedenfalls die Aktion der Schüler immer unterstützt und werde dies auch weiterhin tun. Einige Stadtverordnete hätten persönlich für die Verlegung der Stolpersteine gespendet.

Wilfried Rahner, ehemaliger Pastor in Zehdenick, sieht die Ablehnung auch eher in den Reihen der Bürger als bei den Parlamentsabgeordneten: „Viele drücken sich hier davor, die eigene Geschichte kritisch zu reflektieren.“ Der 76-Jährige war früher Vorsitzender des Vereins „Sachar – Erinnern“, eines Vereins, der das vergangene jüdische Leben in Zehdenick erforschte. Rahner spricht von mangelnder Zivilcourage in der Stadt, von Angst vor Konfrontation mit der lokalen Geschichte während des Nationalsozialismus. Auch Verdruss sei ein mögliches Motiv. „Die Leute wurden doch in der DDR massenweise zu Veranstaltungen in die umliegenden Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen gekarrt.“ Doch im Nachbarort Oranienburg, historisch nicht minder belastet, gab es keine Probleme, die Stolpersteine zu verlegen. „Vielleicht herrscht hier immer noch so eine Biedermannhaltung“, sagt Rahners Frau Christa Maria. „Dieses ‚Wir wollen mit all dem nichts zu tun haben‘.“

Die Rahners sehen zu dem Stolperstein-Fall Parallelen in vergangenen Tagen im Ort. Als 1996 der jüdische Friedhof in Zehdenick drei Jahre lang von Schülern und Bürgern der Stadt restauriert wurde, gab es manches Schulterklopfen, aber auch Einwände: Müssten nicht auch die Gehwege im städtischen Friedhof erneut werden? Als die Aktiven dann noch Schilder an die Häuser mit ehemals jüdischen Bewohnern anbringen wollte, wurde gleich abgewinkt. „Wenn wir die Leute persönlich angesprochen haben, wollte das niemand“, so Wilfried Rahner, der sich an den Arbeiten beteiligte. „Dieser Geist macht sich heute wieder bemerkbar.“ Auch Nicola Scuteri, Mitarbeiter beim Mobilen Beratungsteam Brandenburg, bekennt vorsichtig, dass die Situation hier „zuweilen schwierig“ sei. „Wir haben das auf dem Zettel, dass wir uns da kümmern müssen.“

Ulrike Neumann und ihre Schüler ließen sich hingegen nicht einschüchtern. Am 30. September verlegten sie die ersten sechs Stolpersteine zusammen mit dem Initiator Demnig in der Stadt. Richtig feierlich sei das gewesen, so Neumann. Die Lebenswege der Verfolgten wurden vorgetragen, eine Schülerin sang jüdische Lieder. „Ich finde, wir haben mit unserem Projekt hier etwas angestoßen“, so Neumann. „Die Leute gucken auf die Steine, fangen an, darüber zu reden.“

Jetzt wollen die Schüler sogar noch einen Schritt weitergehen: Nach den Herbstferien soll eine Toleranz-AG an dem Oberstufenzentrum gegründet werden. Und dann werden Unterschriften in der Schülerschaft gesammelt: Damit ihr Haus einmal den Titel des bundesweiten Antidiskriminierungsprojekts „Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage“ tragen kann.