LEHRSTELLEN: KEIN PROBLEM, WEIL ES KEINE MEINUNGSTRÄGER BETRIFFT
: Noch keine Diskussion wie bei Hartz IV

Schon merkwürdig: Da wächst die Zahl der Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz finden, von Jahr zu Jahr – nach Zählung der Gewerkschaften auf nunmehr 100.000, auch wenn der größte Teil davon in irgendwelchen Warteschleifen unterkommt. Doch die Aufmerksamkeit für dieses gewiss große gesellschaftliche Problem hält sich in ziemlich engen Grenzen. Die sogenannte Lehrstellenlücke wird als Naturereignis hingenommen. Für die vorausgesagte Studentenschwemme hingegen, die erst in einigen Jahren erwartet wird, treffen Bund und Länder schon jetzt ihre Vorkehrungen.

Für die Wissensgesellschaft von morgen, heißt es gern, müssten wir uns mit zusätzlichen Akademikern wappnen. Mag sein. Aber kann sich eine solche Wissensgesellschaft zehntausende von Jugendlichen leisten, die berufliche Qualifikationen gar nicht erst erwerben können? Da hat die unterschiedliche Wahrnehmung vermutlich weniger mit den Fakten zu tun als vielmehr mit der sozialen Herkunft fast aller Meinungsträger: Bei Politikern und Redakteuren wird beim Abendessen eben nicht über die künftige Lehrstelle von Sohn oder Tochter diskutiert, sondern über deren Chance, einen Studienplatz zu bekommen.

Der Mechanismus ließ sich schon vor zwei Jahren beim Protest gegen die Hartz-IV-Reform eindrucksvoll beobachten. Die Höhe des Sozialhilfesatzes, für die sich jahrzehntelang allenfalls eine Handvoll engagierter Spezialisten interessiert hatte, wurde plötzlich zu einem öffentlichen Thema. Warum? Weil nun auch Akademiker und Journalisten von einer Existenzform bedroht waren, die zuvor als reines Unterschichtenphänomen galt.

Ein Aspekt der Lehrstellenstatistik ließ gestern allerdings aufhorchen. Die Lücke bei den Ausbildungsplätze, so die Bundesagentur für Arbeit, wachse auch dadurch, dass immer mehr Abiturienten wegen der neu eingeführten Gebühren auf ein Studium verzichteten und lieber eine Berufsausbildung aufnähmen. Es könnte also sein, dass über Lehrstellen bald mehr diskutiert wird – nur vermutlich nicht über jene Hauptschulabgänger, denen die Gymnasiasten nun die Jobs wegnehmen. RALPH BOLLMANN