„Es geht um Macht und Befugnisse“

Berufsforscher Martin Baetghe sagt, Unternehmen und Politik drücken sich vor Neuordnung der Ausbildung

taz: Herr Baetghe, immer wenn die Zahl der fehlenden Lehrstellen bekannt gegeben wird, beginnt ein Ritual. Dann heißt es, die wirtschaftliche Lage sei schuld oder die Schüler seien zu schlecht für eine Lehrstelle. Was ist da dran?

Martin Baetghe: Diese Argumente sind ebenso stereotyp wie unbewiesen. Zwischen der Konjunktur und dem Ausbildungsplatzangebot gibt es aktuell keinen Zusammenhang, denn dann müsste es mehr Lehrstellen geben. Und dass die Schüler zu dumm sind, lässt sich schlicht nicht beweisen, weil es weniger Stellen als Bewerber gibt und vielfach gut qualifizierte Bewerber ohne Ausbildungsplatz bleiben. Schuld daran ist, dass hierzulande zu wenig auf strukturelle Verschiebungen reagiert wird.

Was heißt das?

Zunächst einmal die banale Einsicht, dass in Deutschland der Dienstleistungssektor zunehmend an Bedeutung gewinnt und dieser traditionell weniger ausbildet als beispielsweise Industriebetriebe. Zudem haben Versicherungen, Banken und andere einerseits mehr Bedarf an Jobs für Unausgebildete. Und zum anderen brauchen sie Hochqualifizierte. Die Mitte zwischen diesen Polen bricht weg. Dieser Entwicklung wird die duale Ausbildung nicht gerecht, daher greifen die Firmen auf Uni- und Fachhochschulabgänger zurück und schaffen keine Ausbildungsplätze mehr.

Das kostet sie auch weniger.

Ja, das ist richtig, aber das ist nicht der wichtigste Grund. Das duale System schafft hier einfach nicht die erforderlichen Qualifikationen.

Was lässt sich dagegen tun?

Wir brauchen mehr betriebsunabhängige Ausbildung in Lehrwerkstätten und Berufsschulen unter Einbeziehung betrieblicher Praktika. Und dafür wiederum müssen sehr viel mehr öffentliche Gelder ausgegeben werden.

Und die Unternehmen sollen nichts bezahlen?

Eine Ausbildungsplatzabgabe ist nicht der Königsweg, weil ihre Wirkungen auf die Ausbildungsleistung der Betriebe kaum zu kalkulieren ist. Aber Bund, Länder und die Wirtschaft müssten sich an der Finanzierung beteiligen. Dieses Problem wird derzeit aber nur ungern angefasst, denn wenn man die Finanzierungsfrage klärt, verteilt man auch Befugnisse und Macht in einem neuen außerbetrieblichen Ausbildungssystem. Daran wagt sich derzeit kaum jemand heran.

INTERVIEW: DAS