Unser Lautester

Mit dem Willen zur Wortschlacht: Lutz Hachmeister und Gert Scobel gelingt mit „Ich, Reich-Ranicki“ (ZDF, 22.35 Uhr) ein beeindruckendes Porträt

Von Dirk Knipphals

Es gibt stille Momente in diesem Film. Auf manchen Jugendfotografien, die in ihm gezeigt werden, steht er linkisch und windschief neben seinem Vater – einem unglücklichen Kaufmann, von dem Marcel Reich-Ranicki rührend direkt erzählen kann: Das Windschiefe des Pubertierenden ist dann immer noch in einem Zurücknehmen seines sonst offensiven Sprachgestus spürbar. Ebenso eindringlich erzählt unser Lautester, wie er viele Jahre lang genannt wurde, von seinen Rasiergewohnheiten. Im Warschauer Getto habe er sich täglich zweimal rasiert. Weil ungepflegt aussehende Juden größere Gefahr liefen, ins Lager gebracht zu werden. Dann fügt Reich-Ranicki an: Er wisse, dass er heute nicht mehr in die Gaskammer gesteckt werde, wenn er unrasiert sei. Aber immer noch rasiere er sich zweimal täglich. „Das ist geblieben“, stellt er fest. Er sieht das Getto auch als 86-Jähriger noch im Spiegel, zweimal täglich.

Das ist das Beeindruckende an dem Porträt „Ich, Reich-Ranicki“, das Lutz Hachmeister und Gert Scobel mit langen Interviewpassagen und vielen historischen Originalaufnahmen produziert haben: dass es die ganze Bandbreite dieses Lebens deutlich macht. Denn zugleich enthalten diese 105 Minuten auch viele seiner Alphamännchen- und Rumpelstilzchen-Auftritte. Sein rüdes Sigrid-Löffler-Abkanzeln aus dem „Literarischen Quartett“ ist darunter, und man sieht, dass das wirklich eher ein tätlicher Angriff war: Das Sprechen gerät ihm oft zur Waffe, und wer ihm da in die Quere kommt, der kann sich noch so oft selbst einreden, dass Reich-Ranicki das nur täte, um sich seiner eigenen Existenz zu versichern, die so zufällig den Zweiten Weltkrieg überstanden hat. Dann heißt es nur noch volle Deckung.

Ein anderes Mal sieht man Reich-Ranicki als Juror beim Bachmann-Wettbewerb. Der legendäre Auftritt, als Rainald Goetz sich die Stirn aufschlitzte. Wieder ist Reich-Ranicki sehr laut, und man kann sich schon vorstellen, dass er oft einfach genervt haben muss. Aber in dieser Szene sieht man eben auch, wie geistesgegenwärtig Reich-Ranicki sein kann. Rainald Goetz’ gegen die Literatur („Lüge“) gewandte Performance hat Reich-Ranicki aus dem Stand und unbeeindruckt vom tropfenden Blut als literarischen Auftritt analysiert. Seine Wertungen mögen oft zu sehr am schlichten Schema von Feier einerseits und Verdammnis andererseits orientiert gewesen sein, in diesen Wertungen hat er aber erstaunlich oft Recht gehabt.

Der Effekt dieses Films besteht nun gerade nicht darin, dass man mehr von diesem unwahrscheinlichen Leben versteht. Man versteht gerade weniger, vor allem weniger vorschnell. Jenseits aller Reich-Ranicki-Klischees erscheint er einem plötzlich ganz charmant, und im nächsten Augenblick kippt er wieder in einen Dominatorengestus und ins Lächerliche weg.

Wie um seine eigenen Klischees zu erfüllen, hat Reich-Ranicki bereits gegen diesen Film angenörgelt: Der zeige nicht, was vom ihm bleiben werde, seine Autobiografie, sein Kanon, die Frankfurter Anthologie. Damit hat er Recht. Hachmeister und Scobel haben sich wirklich kaum für die inhaltliche Seite dieses Kritikerlebens interessiert. Das ist aber auch ein Missverständnis. Denn es kann gut sein, dass von ihm nicht so sehr seine Werke bleiben werden, sondern gerade das Performative: seine verbale Aufdrehkunst, sein Wille zur Wortschlacht. Gerade das Flüchtige also. Bei einem Leben, das so sehr am Bleibenden der Literatur ausgerichtet ist, ist das eine ganz eigene Tragik.