Wo gestorben wird, ist Leben

ZUWACHS Bremen hat einen neuen jüdischen Friedhof. Dessen großzügige Förderung durch die Stadt steht in krassem Gegensatz zu deren früherer Blockadepolitik

VON HENNING BLEYL

Müssten Tote Rheuma fürchten, wäre Bremen kein guter Ort für sie. Der Boden ist nass. Wer hier einen neuen Friedhof anlegt, muss viel Sand bewegen, muss immer wieder aufschütten, muss den Toten erst ein Bett bauen. Bremens jüngste Friedhofsanlage liegt in einer besonders feuchten Gegend: Am östlichen Stadtrand, wo Bremen allmählich in die Nasswiesen der Wümmeniederung übergeht.

Es ist der neue jüdische Friedhof. Eingefasst von einer starken Mauer liegt das elliptisch angelegte Gräberfeld anderthalb Meter über dem sonstigen Bodenniveau. Aus der Vogelperspektive gesehen folgen Friedhof und die von dem Frankfurter Architekten Alfred Jacobi entworfene Kapelle der Form des kabbalistischen Lebensbaumes. Das wirkt alles sehr harmonisch. Allerdings brachte der schwierige Baugrund die Gemeinde in ernsthafte Bedrängnis. Immer neue Aufschüttungen erwiesen sich als notwendig, was zu mancher Verzögerung und Kostensteigerung führte.

Selbstverständliche Unterstützung

„Wir sind sehr dankbar, dass die Finanzierung trotzdem funktioniert hat“, sagt die Gemeindevorsitzende Elvira Noa. Eine Million Euro kostete die Anlage schließlich, bezahlt zu zwei Dritteln aus dem Bremer Haushalt, das Übrige von der Gemeinde und Sponsoren. Für Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD) ist das städtische Engagement selbstverständlich. Bei der Einweihung der Friedhofskapelle, die es der Gemeinde erstmals seit der Shoa wieder ermöglicht, ihre Toten allen Riten gemäß zu bestatten, sagt er: „Sie leben mit uns und sie wollen bleiben. Dafür danke ich Ihnen.“

Diese staatliche Unterstützung war beileibe nicht immer gegeben. Nach dem Krieg musste die extrem dezimierte Gemeinde sehr lange kämpfen, um vom Bremer Senat Unterstützung für die Pflege des alten, in Bremen-Hastedt gelegenen Friedhofes zu bekommen. Die Auseinandersetzungen dauerten bis in die 60er-Jahre, obwohl der Bedarf der jüdischen Gemeinde eigentlich nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden konnte: Sie hatte zeitweise nur 16 zahlungsfähige Mitglieder.

Doch selbst der Verweis des Gemeindevorsitzenden auf die Vielzahl komplett ermordeter Familien, deren Gräber von den wenigen Überlebenden nicht alle dauerhaft mitgepflegt werden konnten, zeigte keine Wirkung. Der Senat verwies schlicht auf mangelnde Haushaltsmittel – und auf den Bund, der sich des Problems annehmen solle.

Die mittlerweile im Bremer Staatsarchiv liegende Korrespondenz aus den 50er- und 60er-Jahren zwischen dem Bundesministerium des Inneren und dem Bremer Senat ist ein Dokument der Kaltschnäuzigkeit. Man schob sich den „Schwarzen Peter“ – die Unterhaltslast – nicht nur gegenseitig beziehungsweise der Gemeinde zu, sondern versuchte die Kosten auch auf die „Jewish Claims Conference“ abzuwälzen. Als das nicht gelang, vertrat das Bundesinnenministerium die Auffassung, wenn überhaupt sei „eine orthodoxe Grabpflege“ angemessen.

Dabei ging es keineswegs um sensible Einfühlung in religiöse Strömungen innerhalb des Judentums, sondern um Ökonomie: Orthodoxe lehnen eine verschönernde Grabpflege ab zu Gunsten der automatisch einsetzenden Patina-Ansetzung. Der Senat wiederum sah die Übernahme der Friedhofspflege auch deshalb als nicht erstrebenswert an, weil jüdische Gräber keine Ruhezeit-Begrenzung kennen. Sie sind für die Ewigkeit angelegt – bis zur Auferstehung der Toten. Andernfalls hätte darauf spekuliert werden können, die Flächen nach 30-jähriger Pflege umzuwidmen und als kommunale Grundstücke zu verwerten.

Hartleibiger Widerstand

Bremen erwies sich bei all’ diesen Überlegungen, Abschätzungen, juristischen Gutachten und Gegengutachten als besonders hartleibig – in Gegensatz etwa zu Bayern, das sich mit dem Bund wesentlich früher über eine Unterstützung der Grabpflege verständigte. „Die Interessen der jüdischen Gemeinde stießen offenbar bei einigen Mitgliedern des Bremer Senats auf erheblichen Widerstand“, resümiert die Historikerin Jeanette Jakubowski, die diese Vorgänge jahrelang recherchierte.

Die Folge für den alten jüdischen Friedhof waren eklatant: Noch 20 Jahre nach Kriegsende lagen die von den Nazis zerstörten Grabmale umgestürzt und zerbrochen am Boden. Das Gelände und dessen Zufahrtsweg diente nicht nur Hunden als Notdurft-Gelegenheit. Und noch Ende der 70er war der Friedhof in einem solchen Zustand, dass sich die Gemeinde dafür entschied, die in dieser Zeit häufiger werdenden Anfragen von Bremer Schulklassen nach Besuchen regelmäßig abzulehnen.

In noch ärgerem Zustand befanden sich im Übrigen die Friedhöfe der komplett verwaisten jüdischen Gemeinden der Umgebung. Die Bremer Gemeinde war nach 1945 die einzige im Bremer Umland, die sich zaghaft wieder formierte.

Jakob Manneberg erinnert sich noch gut an die Zeiten, als die Bremer Gemeinde so klein war, dass manchmal der Gottesdienst ausfallen musste. Mindestens zehn Männer müssen für ihn zusammenkommen, sagt die jüdische Vorschrift. „Damit haben wir heute keine Probleme mehr“, sagt Manneberg, der Deutschland 1938 mit seinen Eltern verließ und Ende der 50er aus Israel zurückkehrte. Anfang der 90er-Jahre erwachte die vorher sehr überalterte Gemeinde zu neuem Leben, dank der jüdischen Zuwanderer aus den bisherigen GUS-Staaten. Seit Ende der 90er hat sie eine eigene Kita.

Derzeit allerdings gibt es wieder, entsprechend der landesweiten Entwicklung, eine rückläufige Tendenz. Aktuell hat die Bremer Gemeinde 962 Mitglieder, 2013 waren es zehn mehr.

Der Bedarf nach einer neuen Bestattungsanlage ist trotzdem ein deutliches Zeichen. „Ein neuer Friedhof ist ein Zeichen für Leben“, sagt Böhrnsen, der sich damit im Einklang mit der jüdischen Theologie befindet. Doch wo der Bürgermeister, der auch als Kirchensenator amtiert, einen schlichten Umkehrschluss im Sinn hat – gestorben wird, wo gelebt wurde – werten orthodoxe Rabbiner wie Moshe Nidam, der zur Einweihung eigens aus Jerusalem angereist kam, das Sterben sogar höher als das Leben. „Respekt vor den Toten“, erklärte Nidam streng, der in Jerusalem auch als religiöser Oberrichter tätig ist, „sei noch wichtiger als der vor den Lebenden.“ Elvira Noa drückt es freundlicher aus: „Dieses Haus wird viele Tränen sehen. Dennoch ist seine Einweihung ein Grund zur Freude.“