Einmal alles, bitte

FERNSEH-MOSAIK Fünf Jahre nach ihrem großen Erfolg haben sich die Macher von „24h Berlin“ eine neue Stadt für eine Echtzeit-Doku gesucht. Arte und das Bayerische Fernsehen zeigen an diesem Wochenende „24h Jerusalem“

■ Im Fernsehen: „24h Jerusalem“ läuft heute ab 6 Uhr bei Arte und im Bayerischen Fernsehen.

■ Im Internet: Nach der Ausstrahlung sind die Folgen zwei Monate lang in den Mediatheken und auf www.24hjerusalem.tv abrufbar. Auf dieser Webseite läuft auch ein Livestream der Sendung. Außerdem wird dort ein umfangreiches Second-Screen-Programm angeboten: Porträts der Protagonisten, detaillierte Informationen zur Geschichte der Stadt und Live-Chats mit Produzent und Regisseur.

■ Auf DVD: Am 20. Juni erscheint die komplette Sendung in einer Acht-DVD-Box.

VON SVEN SAKOWITZ

Es gibt sicher entspanntere Drehorte auf der Welt als Jerusalem. Christen, Juden und Muslime haben dort wichtige religiöse Stätten, zu denen jeden Tag tausende Gläubige und Touristen strömen. Die Stimmung in der Altstadt kann man je nach Standpunkt spirituell anregend oder religiös aufgeheizt und anstrengend finden. Hinzu kommt der alles dominierende und oft gewaltsam ausgetragene Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, die beide einen Anspruch auf die Stadt anmelden. Kurz: Es gibt eigentlich nichts, was in Jerusalem nicht kompliziert ist.

Genau deshalb haben sich der Regisseur Volker Heise und der Produzent Thomas Kufus vor knapp vier Jahren dafür entschieden, den Nachfolger ihres Mega-Projekts „24h Berlin – Ein Tag im Leben“ in der Heiligen Stadt zu drehen. Das Ergebnis: „24h Jerusalem“ läuft an diesem Wochenende von Samstagmorgen um sechs bis Sonntagmorgen um sechs bei Arte und im Bayerischen Fernsehen.

Zur Erinnerung: In „24h Berlin“ erzählten Heise und Kufus 2009 vom Leben in der deutschen Hauptstadt in einer Echtzeitdokumentation, für die ein Jahr zuvor an einem Tag und in einer Nacht mehr als 50 Berliner jeglicher Couleur mit Filmteams begleitet wurden. Die daraus entwickelte Parallelmontage wurde ohne Unterbrechung 24 Stunden am Stück bei Arte und dem rbb gezeigt. „Wir sind schon während der Produktion gefragt worden, ob wir das auch in anderen Städten machen möchten“, sagt Thomas Kufus. „Singapur, Paris, São Paulo und Moskau waren im Gespräch – aber diese von der Globalisierung geprägten Städte haben zwar alle unterschiedliche Oberflächen, sind in ihren Strukturen mittlerweile aber ähnlich. Das wäre nur ein Abklatsch geworden. Die Spannung in Jerusalem dagegen ist mit keinem anderen Ort vergleichbar.“

Casting auf der Straße

Zu den aufwendigsten Aufgaben habe die Suche nach den Protagonisten gehört, erzählt Volker Heise: „Unser Ziel war es, Vertreter aller wichtigen städtischen Gruppen abzubilden. Zunächst haben wir uns einen Überblick über die soziokulturelle Struktur der Stadt verschafft und Recherche-Teams gebildet. Diese haben bei Behörden, Institutionen oder Vereinen um Mithilfe gebeten, sind aber vor allem stundenlang durch die Straßen gelaufen, haben interessante Menschen angehauen und diese teilweise monatelang vom Mitmachen überzeugen müssen.“

Wenige Tage vor dem geplanten Dreh am 6. September 2012 kam es zum Knall: Propalästinensische Aktivisten, die sich dem BDS-Netzwerk zugehörig fühlen, riefen die teilnehmenden Palästinenser zum Boykott auf. Das Kürzel BDS steht für Boycott, Divestment and Sanctions, die Unterstützergruppen halten Israel für einen Apartheidstaat und versuchen mithilfe diverser Aktionsformen, die Delegitimierung Israels voranzutreiben. Bekannt sind vor allem ihre Shitstorms im Internet, mit denen Künstler davon abgehalten werden sollen, in Israel aufzutreten. Im Falle von „24h Jerusalem“ wurde über soziale Netzwerke unter anderem die Nachricht verbreitet, es handele sich bei der Produktion um einen proisraelischen Propagandafilm. Aber es wurde nicht nur aufs Internet gesetzt: „Ich habe manchmal danebengestanden, wenn unsere palästinensischen Kollegen Drohanrufe bekamen“, erzählt Kufus. „Da hieß es: ‚Wir wissen, wo du wohnst, und wir wissen, wo deine Kinder sind.‘ Dieser verbale Telefonterror hat allen Angst gemacht, und innerhalb von drei Tagen haben sich fast alle Palästinenser aus dem Projekt abgemeldet.“

Um es zu retten, änderten Heise und Kufus ihre Arbeitsweise und stellten drei autark arbeitende Gruppen auf. Eine bestand aus Palästinensern, eine aus Israelis und eine aus Europäern. Heise hatte zwar die künstlerische Gesamtleitung inne, aber nur im europäischen Team auch das letzte Wort. Es gab nie ein gemeinsames Treffen aller Gruppen, denn eine Zusammenarbeit der Palästinenser mit den Israelis hätte sofort wieder die BDS-Gruppen auf den Plan gerufen. Das ursprüngliche Vorhaben, analog zum Bevölkerungsverhältnis in der Doku zwei Drittel jüdische und ein Drittel palästinensische Protagonisten zu begleiten, konnte mit der neuen Team-Aufteilung nicht aufrechterhalten werden. Stattdessen wurde ein größerer Anteil in Jerusalem lebender Europäer in die Doku integriert.

Am 12. April 2013 konnte der Dreh schließlich stattfinden: 70 Filmteams mit insgesamt 500 Mitarbeitern waren 24 Stunden lang in der Stadt unterwegs und begleiteten knapp 90 Menschen bei ihrem Alltag. Darunter sind zum Beispiel Firas al-Qazaz, der Muezzin in der Al-Aqsa-Moschee, dessen Familie schon seit Jahrhunderten für die täglichen Aufrufe zum Gebet zuständig ist, Esther Shimberg, Mitarbeiterin in der Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem, und die 90-jährige Ruth Bach, die 1940 vor den Nazis nach Palästina geflüchtet ist.

Nach Drohungen von propalästinensischen Aktivisten verließen fast alle Palästinenser das Projekt

Interviews erst am Abend

Das Konzept des Vorgängers wurde behutsam modifiziert: „Während ‚24h Berlin‘ einheitlich gestaltet war, haben wir diesmal die Erzählformen variiert“, sagt Volker Heise. „Vor allem in den Abendstunden gibt es jetzt ein paar längere Interviewstrecken. In Berlin konnten wir den Augenblick feiern, in Jerusalem geht das nicht. Da muss man in die Geschichte der Menschen und ihrer Familien gehen. Das machen wir am Abend, weil die Fernsehzuschauer dann eher die Muße haben, sich das anzuhören.“

Wie gut oder wie schlecht das Ganze geworden ist, ob die Doku einen erhellenden Einblick in das Alltagsleben der Stadt ermöglicht, wird sich wohl erst beurteilen lassen, wenn man ein paar Stunden des Materials gesehen hat. Die Presse bekam vorab einige Ausschnitte, unter anderem die ersten 30 Minuten zu sehen. Die israelischen Sperranlagen sind in diesem Anfangsteil sehr häufig im Bild. Ein Kamerateam filmt palästinensische Arbeiter aus dem Westjordanland auf ihrem Weg nach Jerusalem, der über die Kontrolle an der Sperranlage führt. Übernommen wird die Perspektive der genervten Arbeiter. Warum die Absperrung aus Sicht vieler Israelis notwendig ist, erfährt man nicht.

„Über die ganzen 24 Stunden gesehen, haben wir die palästinensischen Befindlichkeiten genauso thematisiert wie die israelischen oder die europäischen“, sagt Kufus. „Aber nicht so, dass jedes Mal, wenn einer A sagt, auch einer B sagt. Wir wollten nicht immer sofort den Widerspruch liefern. Wenn ein Zuschauer in das Programm reinspringt, nur 20 Minuten sieht und dabei israelkritische Aussagen hört, ist er vielleicht verwundert. Aber jemand, der ein bisschen länger dranbleibt, bekommt schon mit, dass ‚24h Jerusalem‘ eine sehr feine Montage und Mischung von unterschiedlichen Standpunkten ist, die die Komplexität der Stadt zeigt.“