Was in der Schule kaum vorkommt

SCHÜTZENGRÄBEN Als Freiwilliger mittendrin in den Verwicklungen der Geschichte: Sebastian Barrys Irland-Roman „Ein langer, langer Weg“

Sebastian Barrys Roman „Ein langer, langer Weg“ handelt von dem Iren Willie Dunne, der das Pech hat, zur falschen Zeit und am falschen Ort geboren zu sein. Er ist gerade alt genug, um Soldat zu werden, als der Erste Weltkrieg ausbricht. In seiner Geburtsstadt Dublin verschärfen sich gleichzeitig die politischen Gegensätze, die 1916 im Osteraufstand gegen die britische Besetzung gipfeln. Willie versteht das alles nicht. Er wollte eigentlich Polizist werden wie sein Vater, ein stattlicher Mann, zwei Meter groß. Willie aber erreicht zur großen Enttäuschung seines Vaters noch nicht einmal die Mindestgröße für Polizisten.

Um dem Vater zu imponieren, tritt er wie so viele Iren freiwillig in die britische Armee ein und landet in den Schützengräben von Flandern, im Horror des Giftgaskrieges: „Der Graben war mit Leichen gefüllt. Sie wirkten auf ihn wie Dutzende und Aberdutzende der Statuen, die man im Garten von Humewood sah, wo sein Großvater gearbeitet hatte.“

„Ein langer, langer Weg“ ist Sebastian Barrys vierter Roman, der Titel spielt auf den bekannten Weltkriegshit „It’s a long way to Tipperary“ an, der schon im August 1914 von Soldaten eines irischen Regiments der britischen Armee gesungen wurde. Barry, geboren 1955, setzt mit dem Roman seine Erkundung der düsteren Seiten der irischen Geschichte fort, die er seit den 80er Jahren in Theaterstücken und Romanen entwickelt. Immer wieder tauchen dabei die Familie Dunne und auch Willie Dunne selbst auf. Willie versteht nichts von Politik oder Geschichte, leidet aber unter beidem. Man hat ihm gesagt, dass die Deutschen der Feind seien. Dann aber wird Dunnes Regiment während des Osteraufstands 1916 in Dublin eingesetzt, und Dunne soll plötzlich auf Iren schießen. Die sehen in ihm naturgemäß einen Verräter. Doch auch die britischen Vorgesetzten verachten Willie – weil er Ire ist.

Willie wendet sich verwirrt an seinen Kameraden Jesse Kirwan: „‚Ich verstehe die Sache mit den Freiwilligen nicht‘, sagte Willie. ‚Ihr seid Freiwillige, sagst du – aber weißt du, ich bin auch Freiwilliger, ich habe mich freiwillig zur Armee gemeldet.‘ – ‚Himmel noch eins, Willie. Das ist doch was ganz anderes. Du bist Freiwilliger für den verdammten Kitchener. So blöd kannst du doch gar nicht sein. Schau her, Junge. Die Ulster Volunteers wurden von Carson gegründet, um Widerstand gegen die irische Selbstverwaltung zu leisten. Da wurden die Irish Volunteers gegründet, um ihnen, falls nötig, Widerstand zu leisten. Dann kam, wie dir nicht entgangen sein dürfte, der Krieg, und die meisten Irish Volunteers haben getan, was Redmond sagte, und sind in den Krieg gezogen, weil ihnen die irische Selbstverwaltung so gut wie sicher war. Aber ein paar haben sich abgespalten, und die hast du in den schönen Straßen Dublins gesehen! Natürlich sind auch die Ulster Volunteers in den Krieg gezogen, Willie, aber doch nicht für die irische Selbstverwaltung, Herrgott noch mal. Sondern für König und Vaterland und damit alles so bleibt, wie’s ist. Kapierst du’s jetzt?‘“

Am Beispiel von Willie Dunne erzählt Barry eine tragische Version der irischen Geschichte, die vom offiziellen Irland lange Zeit ausgeblendet wurde. In den irischen Schulbüchern kommt der Erste Weltkrieg kaum vor, alles konzentriert sich auf den Osteraufstand als Vorboten der Unabhängigkeit. Barry aber zeigt, dass es um mehr ging als um den Konflikt zwischen Iren und Briten: Briten und Iren kämpften gegen Deutsche im Weltkrieg, Iren gegen Briten im Kampf um die irische Unabhängigkeit, Iren gegen Iren im Konflikt zwischen dem Norden und dem Süden der Insel. Und mittendrin: Menschen wie Willie Dunne.

Nicht nur die Weltkriegstoten seien verschwunden, sondern inzwischen auch alle Überlebenden, sagt Barry. Das habe es für ihn so dringlich gemacht, ihr Leiden und ihre Widerstandskraft zu beschreiben. Das hat er geschafft. „Ein langer, langer Weg“ zeigt in einer ungewöhnlich expressiven Sprache, wie die politischen Verstrickungen der Epoche das Schicksal von Menschen fest im Griff haben, die von den Hintergründen und Details dieser Verstrickungen nicht die geringste Vorstellung haben. RALF SOTSCHECK

Sebastian

Barry: „Ein langer, langer Weg“. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl, Göttingen 2014, 366 Seiten,

24 Euro