Wo bleibt die Leidenschaft?

Die trübe Erkenntnis des Kulturkritikers: Nichts ist schlimmer als die Mittelmäßigkeit

von Klaus Irler

Das Elend fängt schon in der Pause an. Es ist ein Theaterabend in Bremen oder ein Konzertabend oder eine Ausstellung, bei der es ja keine Pausen gibt, aber zumindest das Café für den Austausch danach. „Und, wie ist es?“ – „Geht so.“ Oder: „Ganz nett.“ Oder: „Ich muss da drüber schlafen.“ Alles in allem: „Lauwarm.“ Es macht einen nicht heiß, es lässt einen nicht kalt. Es ist mittelmäßig. Wenn einem dann einfällt, unter welchen Sparzwängen die jeweilige Kultureinrichtung gerade steht, hört man sich sagen: „Aber die Hauptdarstellerin war gut.“

Am nächsten Tag sitzt man vor dem Computer, der Bildschirm ist weiß, die Zeit drückt und man merkt: Die Mittelmäßigkeit ist der ärgste Feind des Kritikers. Die Mittelmäßigkeit lähmt die Finger, sie ist das Gegenteil von Inspiration und bringt den Kritiker in die Bredouille, weil er weiß: Kritiken, die um die Mittelmäßigkeit kreisen, sind selbst meist mittelmäßig. Sie sagen ständig „aber“ und „wobei“, werden viel zu lang und am Schluss sind sie bestenfalls differenziert, nie aber leidenschaftlich. Dabei wäre man das so gerne, leidenschaftlich. Auch weil es diese Vermutung gibt, dass die Leser kein „aber“ lesen wollen, sondern ein „darum“. Darum war es hervorragend, deswegen sollte man es sich unbedingt anschauen. Oder auf jeden Fall zu Hause bleiben.

Aber es war halt mal wieder mittelmäßig, wie so oft in Bremen. Nicht dass die Kultur in anderen Städten, zumal in Berlin Hamburg, München, immer nur entweder bahnbrechend oder unterirdisch wäre – natürlich gibt es die Mittelmäßigkeit auch dort. Aber eben nicht so häufig. Nicht so eingraviert in den kulturellen Alltag der Stadt, die in tiefer sozialdemokratischer Tradition viel Wert auf „Kultur für alle“ legt, was dem Mittelmaß programmatisch zuarbeitet. Außerdem ist Bremen natürlich von seiner Größe und seinem Kulturetat her nicht BerlinHamburgMünchen. Aber was kümmern einen die SPD und die Größe der Stadt, wenn der Bildschirm weiß und die Leidenschaft fern ist?

Genau. Und deswegen neigt man an den leidenschaftlichen Tagen mit den mittelmäßigen Vorabenden gerne dazu, Ungerechtigkeiten in Kauf zu nehmen. Das Lauwarme wird prickelnd heiß oder spürbar kalt. Wobei man die Erfahrung macht, dass der zornige Verriss erstens leichter zu schreiben ist und zweitens die eigene enttäuschte Liebe zur Kultur eindrucksvoller dokumentiert. Das Negativ-Zuspitzen ist bequem. Die andere Variante, nämlich sinnvoll und eloquent zu loben, ist viel schwieriger.

Im besten Fall wird aus der Kritik selbst ein Stück Kultur, nicht Kunst, aber Debatten-Kultur. Wobei sich auch die Leser mit dem Loben schwer tun. Und das klingt dann in einem Leserbrief beispielsweise so: „Eine journalistische Meisterleistung war diese Kritik nicht. Mit welchem Recht zieht Herr Irler das Stück so hinunter? Muss das Theater nun Büßer dafür sein, dass Herr Irler das Stück nicht verstanden hat? Applaus für die Inszenierung! Und Daumenschrauben für Herrn Irler!“