Sympathie für den Vaterlandsverräter

Dass Orhan Pamuk den diesjährigen Literaturnobelpreis erhält, freut die meisten türkischstämmigen Berliner – auch die, die sich an seinen politischen Ansichten stoßen. Eines steht fest: Wer Pamuks Romane gelesen hat, liebt ihn meist auch

Von Alke Wierth

Autokorsos wie nach gewonnenen Fußballspielen blieben nach der Vergabe des Literaturnobelpreises an den Schriftsteller Orhan Pamuk am Donnerstag zwar aus. Auch nach türkischer Beflaggung Kreuzberger Wohnhäuser sucht man vergeblich. Sanfte Freude und verhaltener Stolz auf den ersten Literaturnobelpreisträger aus ihrer Heimat sind unter den türkischstämmigen Kreuzbergern dennoch spürbar.

„Wir freuen uns, weil er Türke ist“, sagen Saniye Akbas und ihre Freundin, die gerade vom Arztbesuch nach Hause gehen. Gelesen haben die beiden älteren Damen nichts von Pamuk, und auch von der Preisverleihung haben sie nur aus dem Fernsehen erfahren. Zeitung lesen die zwei Großmütter nicht: Was sie vor Jahrzehnten in der Grundschule gelernt haben, haben die beiden fast wieder vergessen.

Dabei feiern die türkischen Tageszeitungen Pamuks Ehrung groß auf den Titelseiten. Der aus der Türkei stammende Zeitungshändler am Engelbecken findet die Preisvergabe an Pamuk einfach „schön!“. Er kennt zwei Bücher des Preisgekrönten, sein Urteil: „Ein großartiger Autor!“

Levent Bayram, Buchhändler im Anadolu Kültür Sarayi am Kottbusser Damm, ist skeptisch. Pamuks Bücher würden bei ihm zwar viel gekauft, sagt er, auf Türkisch wie auf Deutsch. Ob all die verkauften Exemplare auch gelesen würden – da hat Bayram Zweifel. Sie seien vielen Lesern zu schwer. Er selbst hat keines von Pamuks Büchern gelesen – und seine Meinung zur Preisvergabe ist geteilt. Einerseits, sagt der Buchhändler, „macht es uns stolz, dass endlich mal ein Türke einen Nobelpreis gewonnen hat“. Pamuks Äußerungen über die Verdrängung türkischer Untaten an Armeniern und Kurden jedoch seien „brisant“. „Niemand in der Türkei leugnet ja, dass damals Schreckliches geschehen ist“, meint Bayram. Zahlen zu nennen sei jedoch „heikel“.

30.000 Kurden und eine Million Armenier seien ermordet worden, hatte Orhan Pamuk im Februar 2005 einer Schweizer Zeitung gesagt, „und fast niemand traut sich, das zu erwähnen“. In der Türkei war der Autor daraufhin wegen „Verunglimpfung des Türkentums“ angeklagt worden. Der Prozess wurde später eingestellt.

Metin Ürgen, der an der Adalbertstraße türkische Musik verkauft, regt sich über diese Anklage noch im Nachhinein kräftig auf. „Man kann doch nicht das Denken verbieten!“ Das sei keine Demokratie, keine Freiheit, schimpft Ürgen. Wer politisch denke, müsse Pamuk lesen, meint der Musikhändler. Er kennt alle Bücher des frisch gekürten Nobelpreisträgers.

Im Gemüseladen ein paar Häuser weiter bleibt man gelassener. „Pamuk? In welcher Mannschaft spielt der denn?“, witzelt ein Verkäufer. Gelesen hat hier niemand etwas von ihm. Kennen tun den Autor dennoch alle – gerade wegen seiner Äußerungen zu Armeniern und Kurden. Das sei natürlich „Quatsch“, was Pamuk damals gesagt habe, meint der Chef des Ladens. Dennoch freut er sich über den Preis: „Wir lieben eben auch unsere Vaterlandsverräter.“