Unterschicht-Debatte
: Politischer Realitätsverlust

Realitätsverweigerung: Anders lässt sich die Null-Reaktion der nordrhein-westfälischen Landespolitik auf die aktuelle Unterschicht-Debatte nicht beschreiben. Denn während große Teile des politischen Berlins immerhin noch Schönfärberei betreiben und CDU, SPD und Grüne die Entstehung einer neuen Unterklasse schlicht leugnen, versinkt der Düsseldorfer Politikbetrieb in großes Schweigen, reagierte gestern gar nicht.

KOMMENTAR VON ANDREAS WYPUTTA

Dabei trägt Nordrhein-Westfalens politische Elite Verantwortung für die Entstehung des „abgehängten Prekariats“, von dem die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung so verklausulierend spricht. Den später mit den Hartz-Gesetzen aufgegriffenen Slogan vom „Fördern und Fordern“ hat der ehemalige SPD-Landesparteichef und NRW-Arbeitsminister Harald Schartau 1999 in die politische Debatte eingeführt – sehr zur Freude von Christdemokraten und Liberalen. Und unterstes Stammtischniveau war auch die „Sozialschmarotzer“-Parole, mit der sich Nordrhein-Westfalens ehemaliger SPD-Ministerpräsident Wolfgang Clement von seinem Amt als Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit verabschiedete.

Immergleicher Tenor war eine Anklage in Richtung der Arbeitslosen. Die seien faul, lebten auf Kosten der arbeitenden Mehrheit, müssten nur einmal richtig gefordert werden – und seien damit eben Verursacher ihrer selbst verschuldeten Arbeitslosigkeit. Das ist in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit natürlich blanker Unsinn. Dennoch schnüffeln heute Sozialkontrolleure in den Wohnungen von Hartz IV-Empfängern, während Freiberufler in NRW nur alle sechzig Jahre eine Steuerprüfung zu erwarten haben. Doch wie zuvor Rot-Grün wollen auch CDU und FDP keine neuen Steuerfahnder einstellen, verweigern sich erst recht einer Debatte um die Wiedereinführung der Vermögenssteuer – und betreiben so eine an Realitätsverlust grenzende Politik.