Viel mehr als Kinder wegnehmen

Von Jessica zu Elias: Die Fälle von Kindesvernachlässigung haben in Hamburg Spuren hinterlassen. Die Meldesysteme werden überprüft, neues Personal eingestellt. Trotzdem sind die Sozialarbeiter immer noch überlastet

Vor eineinhalb Jahren starb die siebenjährige Jessica einen grausamen Hungertod, eingesperrt in einem Hochhaus in Hamburg-Jenfeld. Die Hamburger Bürgerschaft richtete daraufhin den Sonderausschuss „Vernachlässigte Kinder“ ein.

Dort ging es zunächst um das Versagen der Informationswege: Warum wusste das örtliche Jugendamt nichts, fasste die Schulbehörde nicht nach? Der Senat beschloss ein zentrales Schülerregister. Die ebenfalls geplante Erstellung einer elektronischen „Elternakte“ bei den Jugendämtern scheitert bislang an der ungenügenden Software. Bundesweit für Schlagzeilen sorgte der Vorstoß, die Besuche beim Kinderarzt, die so genannten „U-Untersuchungen“, verbindlich vorzuschreiben. Daten von Eltern, die nicht teilnehmen, so der Plan, sollten an Jugendämter übermittelt werden.

Vielen Mitarbeitern der Allgemeinen Sozialen Dienste (ASD) ist bei der Debatte unwohl. „Wenn wir nur als Einrichtung, die die Kinder klaut, bekannt werden, bekommen wir noch weniger Zugang zu den Familien“, klagte ein Sozialarbeiter. „Jessica war nur die Spitze des Eisbergs“, sagte seine Kollegin, verwahrloste Kinder gebe es bei der gestiegenen Armut „in Massen“. ASD-Mitarbeiter schätzten, dass es in der Stadt 700 bis 800 Fälle wie Jessica gebe, sie seien aber zu überlastet, um allen Fällen nachzugehen.

ASD-Mitarbeiterin Elisabeth Tinger quittierte nach 23 Jahren den Dienst. Sie mochte das Risiko, ein Kind zu übersehen, nicht verantworten. Nur per Zufall habe sie beispielweise den Anruf einer Mutter ernst genommen, die über Schimmel an der Wohnungswand klagte. Beim Hausbesuch fand sie in einem durchnässten Bett ein unversorgtes Baby mit einer Flasche gegorener Milch. Erst, als im vergangenen Herbst binnen einer Woche gleich vier weitere Fälle von Kindern, die die Polizei vernachlässigt und verdreckt in Wohnungen entdeckte, bekannt wurden, sprach CDU-Bürgermeister Ole von Beust ein Machtwort. Es solle in Hamburg „kein Kind mehr durchs Rost fallen“.

Heute arbeiten 40 Menschen mehr bei den Ämtern als vor Jessicas Tod. Ob das ausreicht, ist umstritten. Die Bezirksamtsleiter hatten mehr gefordert. Eine Arbeitsgruppe unter Federführung der Finanzbehörde durchleuchtet derzeit die Ämter und erarbeitet Leitfäden für einheitliches „Eingangsmanagement, Fallmanagement und Netzwerkmanagement“. „Der große Wurf ist in Hamburg ausgeblieben“, sagt der SPD-Sozialpolitiker Dirk Kienscherf. Auch die Arbeitsstruktur sei noch die gleiche. „ASDler sitzen am Schreibtisch, beauftragen freie Träger, und die schicken Honorarkräfte los.“

Es müsse, das forderte auch der Sonderausschuss, wieder mehr „aufsuchende Arbeit“ geben, durch die ASD direkt und durch ein dichtes Netz von Familienhebammen, die die Mütter schon vor der Geburt aufsuchen. Eine kostengünstige Maßnahme, da einen Teil die Kassen bezahlen. Doch statt der auch vom Kinderschutzbund geforderten flächendeckenden Ausweitung gibt es nur sieben neue Projekte.

Dass die Jugendämter noch nicht optimal arbeiten, zeigte der Fall des dreijährigen Elias im Februar. Weil dem Vermieter ein Wimmern hinter der Wohnungstür aufgefallen war, rief er die Feuerwehr, die ein voll gekotetes Kind einer drogenabhängigen Mutter in einem Bettchen vor dem Fernseher entdeckte.

In der Sozialbehörde wurde danach erwogen, alle Fälle von drogenabhängigen Eltern, die Kinder unter sieben Jahren haben und nicht in einer Kita erscheinen, zu überprüfen. Ihre Zahl ist mit rund 60 überschaubar. KAIJA KUTTER