Diagramme des Subjektiven

Kaum hat die Turn-Weltmeisterschaft begonnen, gibt es auch schon wieder skandalöse Wertungen. Wer bei den Juroren keine Lobby besitzt, kommt schlecht weg. Das erregt sogar den Präsidenten des internationalen Verbandes, Bruno Grandi

„Dies ist ein System, welches das Turnen vollständig zerstören wird“

AUS AARHUS SANDRA SCHMIDT

Die Qualifikationswettkämpfe der Turner sind in vollem Gange. Fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit begutachten Trainer, Funktionäre und Journalisten nicht nur, was die Aktiven aus 43 Nationen präsentieren, sondern auch, wie die Kampfrichter erstmals bei Welttitelkämpfen die Anfang 2006 in Kraft getretenen neuen Wertungsvorschriften in die Praxis umsetzen. Auch der Präsident des Internationalen Turner-Bundes (Fig) beobachtet die Wettkämpfe mit Argusaugen: „Dies ist ein System, das das Turnen vollständig zerstören wird“, schimpft Bruno Grandi über das soeben Gesehene.

Seit 1996 steht er dem Weltturnverband vor und hat entscheidenden Anteil an den nun vorgenommenen Neuerungen, die aber nicht verhindern, was er das System nennt: „Diese Kampfrichter sind sich selbst am nächsten, sie sehen das Trikot der eigenen Mannschaft und vergessen alles, was sie gelernt haben.“ Grandi, der einst selbst in der italienischen Nationalauswahl turnte, gilt als diplomatischer Funktionär, allein wenn er Ungerechtigkeiten wittert, wird er ungewöhnlich deutlich. Nach den Wertungsskandalen bei den Olympischen Spielen in Athen 2004 ist das immer häufiger der Fall. Dieses Mal ging es um einen Ringeturner aus Venezuela, Regulo Carmona, der mit einer A-Note von 7,0 eine extrem schwierige Übung präsentierte und durch eine ungerechtfertigt niedrige B-Note für die Ausführung – davon ist nicht nur Grandi überzeugt – um einen Platz im Gerätefinale gebracht wurde. „Es ist eine schreiende Ungerechtigkeit, eine Schande. Es ist keine Frage: Wäre dieser Turner nicht aus Venezuela, sondern aus einem traditionell starken Land, er hätte viel mehr Punkte bekommen. Er hat eben keine Kampfrichter, die für ihn arbeiten.“

Was es bedeutet, wenn Kampfrichter für Turner arbeiten, bleibt dem gewöhnlichen Zuschauer meist verborgen. Es ist ein diffiziles Geschäft, in dem in erster Linie mit Zehntelpunkten gehandelt wird, und nur ein langwieriges Studium jeder Note jedes einzelnen Kampfrichters ergibt in der Zusammenschau der teilnehmenden Nationen eine Art Diagramm der WM, an dem sich erkennen lässt, welche Länder gute Beziehungen pflegen. Der Zuschauer allerdings sieht nur die Endnote und die wenigsten kennen die Wertungsvorschriften so genau, dass sie überhaupt Grund fänden, sich zu wundern. „Es ginge darum, das ganze System zu verändern. Wir haben auch schon über einen Kampfrichterpool von Profis nachgedacht, aber wie sollen wir das finanzieren, ich bin ja nicht der Präsident der Fifa (Fußballweltverband, d. Red.)“, bemerkt Grandi etwas resigniert und fügt hinzu: „An diesem Punkt können Sie schreiben, dass ich gescheitert bin. Es ist ein Drama, und die Kampfrichter, die so vorgehen, müssen begreifen, dass sie unseren Sport zugrunde richten.“

Die neuen Wertungsvorschriften können hier wenig ändern, denn die Möglichkeit, Protest einzulegen, beschränkt sich auf die A-Note. Der zentrale Punkt ist und bleibt das Problem aller subjektiven Beurteilungen im Sport; es gibt einen Ermessenspielraum in der persönlichen Entscheidung jedes Kampfrichters, wenn es darum geht, einen kleinen oder einen mittleren Fehler gesehen zu haben. Deshalb kann häufig auch das Technische Komitee der Fig, eine Art Kontrollgremium, das während der Wettkämpfe die Arbeit der Kampfrichter kontrolliert und gegebenenfalls korrigiert, nicht immer eingreifen.

In diesem Gremium ist der Deutsche Siegfried Funk als so genannter Supervisor verantwortlich für die Ringe; er verweigerte jedoch jeglichen Kommentar zu der Bewertung des Venezulaners. Trotz dieser ungelösten Probleme hält der 72-jährige Grandi an der neuen Wertungsvorschrift fest: „Ich bin überzeugt, dass die Veränderungen sich positiv auswirken“, glaubt er, „es ist hier schon deutlich zu sehen, dass sich durch die offene A-Note die wirklich herausragenden Turner stärker von den vielen guten Athleten absetzen können.“ Nach dem Ende der Qualifikation hofft Grandi denn auch, dass Regulo Carmona noch seine Chance bekommt: Das Opfer der Wertungsrichter ist erster Ersatzturner für das Finale an den Ringen am Freitag.