Zur Sparkasse und zurück

VON EUGEN EGNER

Das Mädchen Lupe wurde zur Sparkasse geschickt, um dieselbe so zu beeindrucken, dass es zur Auszahlung einer größeren Summe kam. Draußen in der Landschaft wimmelte es von Orten und Entfernungen. Leicht konnte man die Richtung verlieren. Zum Glück wusste das Mädchen Lupe, dass es richtig war, einen weiter entfernten Punkt ins Auge zu nehmen und darauf loszugehen. Und das tat sie dann auch. Der Gedanke an die Sparkasse ließ dieselbe schon bald am näheren Horizont entstehen.

Da lagerte ein Mensch am Weg. „Guten Tag“, sagte Lupe artig zu ihm, doch er erwiderte grußlos: „Du! Hast du Geld?“ Eine unhöfliche Ansprache war das. „Du musst Geld haben“, beharrte der Wegelagerer. Lupe entgegnete: „Wenn Sie Geld wollen, müssen Sie zur Sparkasse gehen. Ich bin nur ein Mädchen und habe keins.“ Der Räuber erkannte wohl, dass Lupe ein Mädchen war, so viel hatte man ihm beigebracht. Er ging zu Drohungen über: „Ich beherrsche den Druck auf die Brustwand und beherrsche das Armverfahren, die Umklammerung von vorn und von hinten. Und ich seh’s dir im Übrigen doch an, dass du zur Sparkasse unterwegs bist. So sind alle Mädchen.“

„Was Sie reden!“, versetzte Lupe. Der Wegelagerer ließ sich nicht beirren: „Leugnen ist zwecklos. Ein Mädchen gilt bei der Sparkasse alles und bekommt auch alles. Wenn du von der Sparkasse zurückkommst, wirst du Geld haben. Ich warte hier.“ Lupe versuchte es mit Widerspruch: „Da können Sie lange warten, ich werde nie zurückkommen.“ Der Wegelagerer aber rief: „Alle kommen zurück, und alle haben dann Geld. Sieh her: Von allen habe ich die Knochen säuberlich gestapelt und daneben die Kleidchen, ordentlich gefaltet.“ Lupe besah sich die Stapel und versuchte eine andere Ausflucht: „Und wenn ich mit der Bahn fahre?“ Auch damit kam sie nicht durch. „Die Bahn wird erst gebaut“, musste sie sich belehren lassen. Lupe würdigte den argen Menschen keines Blickes mehr, sondern setzte ihren Weg fort. „Lass dir recht viel Geld geben!“, rief er ihr nach. Ohne zu antworten, schritt sie voran.

Bald erreichte sie die Sparkasse und wurde vor den Direktor geführt. Dieser fragte sie: „Du bist also das Mädchen Lupe?“ Lupe bestätigte dies und nannte ihr Anliegen. „Nein“, lautete die Entscheidung des Direktors, „ich gebe dir das Geld nicht.“ Lupe begehrte heftig auf: „Das ist eine unwillkommene Entwicklung!“ – „Bitte, geh jetzt“, sagte der Direktor, „ich möchte mit all dem Geld allein sein.“ Er rief seine Handlanger, auf dass sie Lupe hinauswarfen. „Raus!“, riefen diese und: „Wir wollen hier keine Mädchen!“

Lupe beugte sich notgedrungen der Übermacht und begab sich auf den Rückweg. Da stand der Wegelagerer wieder vor ihr: „Du! Hast du das Geld?“ Wahrheitsgemäß verneinte das Mädchen. „Und nun?“, fragte der üble Kerl. „Töten Sie mich“, sprach Lupe schicksalsergeben. Der Wegelagerer wollte aber nicht recht: „Was habe ich davon, wenn ich dich töte und doch kein Geld dadurch bekomme? All die Arbeit mit deinen Knochen und deinem Kleidchen! Geh! Du hast mich enttäuscht!“