Hinter dem Vorhang

MALEREI Bisschen sentimental kann man schon werden in der Ausstellung „Die halluzinierte Welt“ im Haus am Lützowplatz

VON DETLEF KUHLBRODT

Das Haus am Lützowplatz ist eine ehrwürdige Institution. Getragen wird der Ausstellungsraum von einem 1960 gegründeten Kunstverein aus dem sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Umfeld. Die Präsentation zeitgenössischer bildender Kunst sollte „mit einem Brückenschlag zur politischen und gesellschaftlichen Realität“ verbunden werden.

Ein schöner Hofgarten verbindet die Große Galerie im vorderen Teil des Hauses mit der kleineren Studiogalerie. Seit einem Jahr ist Marc Wellmann dort künstlerischer Leiter. Es ist ein Dienstag, an dem die Vernissage zur Ausstellung „die halluzinierte Welt“ sehr gut besucht ist. In seiner Eröffnungsrede sagt Marc Wellmann, es handele sich um eine sehr persönliche Schau. Neben mir steht Peter Müller, der eifrigste Ausstellungsbesucher der Stadt. Wir hatten uns vor 25 Jahren kennengelernt, in der Zeit, als ich anfing, für die taz zu schreiben. Er hatte immer eine Plastiktasche dabeigehabt. Nun sind wir beide viel älter geworden. Wie immer guckt er fragend „Woher kennen wir uns denn?“, und ich erkläre es ihm.

„Halluzinationen lassen sich als Krise der Repräsentation beschreiben“, heißt es im Text zur Ausstellung. Das bezieht sich, glaube ich, auf die Zeit Anfang 1900, auf das „unrettbare Ich“, auf Ernst Mach, Sigmund Freud, Nietzsche, Musil, Proust usw., die die Vorstellung, das Ich sei unumschränkter Herrscher im eigenen Haus, verabschiedeten. Eine weitere Referenz ist der Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure, der herausfand, dass das Wort Baum willkürlich gewählt ist, dass die Beziehung zwischen Wort und Ding arbiträr ist, dass „signifiant“ und „signifié“, Zeichen und Bezeichnetes, auseinanderfallen. Verschiedene künstlerische Avantgarden, wie der Surrealismus, arbeiteten damit.

Vor der Bilderflut

Weil die Zeit, in der ich studiert hatte, und die Zeit dieser Avantgarden noch länger her ist, klingt die Rede vom „Absonderlichen, Ver-rückten und Abgründigen“, das in der Ausstellung thematisiert werde, fast altbacken. Das als absonderlich, ver-rückt und abgründig Bezeichnete wird in der maßlosen Bilderflut der Jetztzeit ja nicht mehr als solches empfunden. Die meisten hier ausgestellten Bilder evozieren Kunstgeschichte, sind ein Spiel mit der Kunstgeschichte.

Bei Eckart Hahn etwa, dessen Bild „Abend“ einen fotorealistisch gemalten Mann im Hemd darstellt, denkt man an Magritte. Wo das Gesicht war, ist eine hellblaue Fläche; als Schale liegt das Gesicht des Mannes auf dem Tisch, an dem er sitzt. Justine Ottos Bild „Liederkranz“ scheint Otto Dix zu beschwören, und Tilo Baumgärtels „Hella“ erinnert an eine Absinthfee (das schöne Grün) oder das Cover eines Groschenheftgruselromans. Wobei „Hella“ noch am ehesten an klassische LSD-Halluzinationen denken lässt; an die halluzinationsbegleitenden Empfindungen, wenn der Unterarm plötzlich sehr viel länger scheint, als er sein müsste.

All das, was man bei dem Titel der Ausstellung „Die halluzinierte Welt. Malerei am Rand der Wirklichkeit“ erwartet, ist da; die Beschwörung kindlicher Fieberträume, man assoziiert alte Kinderbücher wie „Peterchens Mondfahrt“ oder „Mary Poppins“, surrealistische Zitate, diffuse Traumgesichter, einen Höllenhund im schwefelgelben Ambiente, das Obszöne und Grausame in einem Raum, der mit einem Vorhang abgetrennt ist.

Auf einem Schild steht: „Die hinter den Vorhang gestellten Bilder können moralische oder religiöse Empfindungen verletzen und sind für Kinder ungeeignet. Wir bitten dies vor Betreten des Raums zu berücksichtigen und Minderjährige ggf. von einem Erziehungsberechtigten begleiten zu lassen.“ Gespannt betritt man den Raum. Die Stimmung ist hier am besten; viele kichern und unterhalten sich angeregt.

Gruppensexuell sozusagen

Ein großformatiges Bild der Berliner Künstlerin Alex Tennigkeit mit einer in der Mitte durchgeschnittenen Frau und vielen grausamen Details evoziert das anatomische Theater. Ein anderes, „the Functionnaries“ von Michael Kirkham, ist pornografisch gruppensexuell sozusagen: ein Arrangement von fünf Leuten im Büro, die auf, unter und neben einem obszön aktiv sind. Eine Frau sitzt mit gespreizten Beinen auf einem Tisch und pisst in das Gesicht eines Mannes, der unter dem Tisch liegt.

Das Bild erinnert an depressiv-sexuelle Bilder von Christian Schad, den großen Maler der Neuen Sachlichkeit. Von Minute zu Minute gefällt mir dieses pornografische Bild besser. Wir sprechen über Details, ein kleines gelbes Post-it an dem Computer etwa, der neben der Orgie auf dem Tisch steht.

Ich denke an ganz früher, als Pornografie noch nicht allgemein zugänglich war; als ich mal eine Fernsehsendung über Christian Schad auf LSD gesehen hatte. Komisch, dass auch Erinnerungen an sehr unangenehme drogeninduzierte Wahnzustände eine sentimentale Note haben. Was aber gut zur Ausstellung passt.

■ Haus am Lützowplatz, bis 29. Juni, Di.–So. 11–18 Uhr