Lust am kollektiven Wohnen

Auf dem 4. Wohnprojekt-Tag in Gelsenkirchen diskutieren Behördenvertreter, Architekten und Politiker Wohnmodelle in Ballungsräumen, die an den Bedürfnissen von Kindern orientiert sind

Geplatzte Betonkübel als Panzersperren auf den Freiflächen, beschmierte Blechboxen für Müllcontainer – manchmal hilft nur Abriss

VON LUTZ DEBUS

Die Kommune lebt. Und zwar mitten in NRW. Kein Wohngemeinschaftsfrust vergangener Zeiten, sondern die zeitgemäße Lust am kollektiven Wohnen und Leben wird auf der Ausstellung am Rande des 4. Wohnprojekttages im Wissenschaftspark Gelsenkirchen gezeigt. Wie Markthändler stehen die Vertreter der vielen Projekte hinter ihren Ständen und präsentieren, was abseits von Eigenheimidylle und Betonblocks an Wohnform noch möglich ist und möglich sein könnte.

In Düsseldorf zum Beispiel gibt es bereits seit knapp 17 Jahren an der Otto-Petersen-Straße den Verein „Wohnen mit Kindern“, in dem 30 Haushalte mit 45 Kindern organisiert sind. Gemeinsame Kanutouren und Chorproben, Skulpturenbau vor der Haustür, ein Hortgericht mit Kindern als Richter, Staatsanwalt und Verteidiger in der angeschlossenen Kindertagesstätte „Vorstadtkrokodile“ – das gemeinschaftliche Leben erscheint hier wild und farbenfroh.

Andere Initiativen sind noch in der Planungsphase. In Bielefeld sammelt die Genossenschaft „stattVilla“ noch Interessierte und deren Geld, um ein Anwesen mit 18 Wohnungen zu erwerben. Der Verein „Asnide“ in Essen und die Genossenschaft „Amarylis“ in Bonn werben für das Mehrgenerationenwohnen. Statt alte Menschen ins Heim zu stecken, will man gemeinschaftlich die Pflege organisieren. Für jede Region und für jeden Wohnwunsch scheint es ein Angebot zu geben.

Im Saal beginnt inzwischen der Wohnprojekt-Tag. Nicht nur die im Foyer ausstellenden Genossen und Vereinsmitglieder sind auf Einladung der Wohnbund-Beratung NRW gekommen. Politiker, Architekten, Verwaltungsleute – der Kreis der Interessierten ist groß. Wohnprojekte haben, so Wolfgang Kiehle, Organisator des Treffens, den Nimbus des Alternativen oder Anarchischen verloren, sind gesellschaftsfähig geworden. Gerade die Modelle, die sich mit dem demographischen Wandel in der Gesellschaft auseinander setzen, sind für Kreise und Kommunen in NRW interessant geworden.

Altersgemischte Wohnformen erscheinen den Verantwortlichen zumindest auf den ersten Blick finanziell günstiger als teure Altenpflegeheime. Der Strukturwandel kann, diese Meinung setze sich auch in etablierten Kreisen durch, nur mit Hilfe von Bürgerengagement bewältigt werden. Um den immer kinderfeindlicher werdenden Metropolen etwas entgegen zu setzen, habe die Wohnbund-Beratung in diesem Jahr den Schwerpunkt der Vorträge auf Wohnprojekte mit Kindern gesetzt.

Die Referentin Anja Beisenkamp stellt das „Kinderbarometer“ der Landesbausparkasse vor. Ähnlich dem vom Fernsehen bekannten Politbarometer wurden Kinder und Jugendliche aus zehn Städten in NRW nach ihrer Meinung zum Thema „Wohnen“ gefragt. Manche Aussagen der repräsentativen Umfrage erscheinen naheliegend: „Graue Häuserwände bewerten die Kinder negativ.“ Andere Ergebnisse wiederum erstaunen. Kinder fühlen sich nicht etwa in gepflegten Neubaueigenheimsiedlungen wohl. Oft fehlt in den auf der grünen Wiese aus dem Boden gestampften Trabantenstädten die kindgerechte Infrastruktur.

Beispiele, wie es anders geht, vermittelt im Anschluß die Landschaftsarchitektin Johanna Spalink-Sievers. Mit bissigen Kommentaren versehen, schildert sie zunächst die traurige Realität, die sie vor Beginn ihrer jeweiligen Tätigkeit vorgefunden hat. Geplatzte Betonkübel als Panzersperren auf den Freiflächen vor den Eingängen von Hochhäusern. Beschmierte Blechboxen für Müllcontainer. Klingelbretter so groß wie Bettlaken. Manchmal, so ihr Fazit, helfe da nur Abriss.

Oft aber könne man mit landschaftsbaulichen Mitteln viel bewirken. Dabei sei die Beteiligung der Anwohner bei der Projektierung der Veränderungen sehr wichtig. In einer Bettenburg bei Bremen sei das wertvolle Holzklettergerät trotz entsprechender Unkenrufe der Verantwortlichen seit Monaten in Betrieb. „Wenn die Bewohner die Veränderungen selbst planen, passen sie auch später darauf auf.“ Um eine graue, mit hässlichen Grafitties verschmierte Rückwand einer Garagenanlage zu verschönern, wurden mit Genehmigung der Garagenbesitzer die ortsansässigen Sprayer beauftragt, diese freundlich und farbenfroh zu gestalten. Als sich die Künstler ans Werk machten, kam allerdings sofort die Polizei. Nachbarn hatten den Notruf gewählt, vermuteten Kriminalität statt Kunst am Bau.

Die Landschaftsarchitektin konnte die Kids in letzter Minute vor einer Festname bewahren. Manche Vorschläge der beteiligten Jugendlichen stellten aber sogar die ökologisch verantwortliche Planerin auf eine harte Probe. Fast unisono formulierten diese ihren größten Wunsch: ein Fußballfeld aus Kunstrasen.

Johanna Spalink-Sievers ließ sich überzeugen. Asphalt ist zu gefährlich, Schotter zu schmerzhaft, echter Rasen zu pflegeintensiv. Warum also kein Gras aus Erdöl? Mit einem alle entwaffnenden Foto beschwichtigt die Referentin dann auch das in Gelsenkirchen versammelte Publikum. Auf der Leinwand ist ein türkisches Mädchen zu sehen: schwarzes Kleid, darunter schwarze Stoffhose und weißer Pullover, auf dem Kopf ein weißes Kopftuch. An den Füßen trägt sie Sportschuhe eines namhaften US-amerikanischen Herstellers. Unter ihr leuchtet grell der Kunstrasen. Das Mädchen berührt ihn nicht. Sie macht gerade einen akrobatisch anmutenden Fallrückzieher.

Den Menschen zu helfen, den öffentlichen Raum zurück zu erobern, sei, so Johanna Spalink-Sievers, die wichtigste Aufgabe. Durch attraktiv gestaltete Spielplätze sei es auch streng gläubigen muslimischen Frauen möglich, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Der Besuch einer Familienbildungsstätte, in der Mittelschichtsmütter neue Sozialkontakte knüpfen, sei für manche Frau mit Migrationshintergrund undenkbar. Auf der Bank vor dem Klettergerüst aber könne viel unbefangener Kontakt geknüpft werden. Inzwischen sei die Erlebniswelt in dem Bremer Problemstadtteil so berühmt, dass sogar Familien aus gut situierten Vororten anreisen.

Am Ende des Wohnprojekt-Tages ist Wolfgang Kiehle zufrieden. Es habe sich gezeigt, dass es viele Möglichkeiten gibt, in den Betonlandschaften artgerechten Lebensraum sogar für Vorstadtkrokodile zu schaffen. Stadtplanung, so das Fazit der Veranstaltung, ist zu wichtig, um sie den Erwachsenen zu überlassen.