Der rote Knoten der Pioniere

„Zurück“ – und zwar in Vergangenheit und Zukunft zugleich: Das Freischwimmer-Festival für junges Theater, das jetzt auf Kampnagel Hamburg gastiert, befasst sich mit gescheiterten Utopien. Und mit dem Schweigen der einstigen Agitatoren

„Uns interessieren die Symbole der Vergangenheit, nicht das Scheitern des Realsozialismus“

VON PETRA SCHELLEN

Stimmt es, dass die Menschheit an nichts mehr glaubt? Dass Zukunftsmodelle nur in der Vergangenheit zu finden sind – als Utopien, die alle scheiterten? Dass, wer neue Gesellschaftsmodelle sucht, allenfalls in antiquierte oder religiös-esoterische Entwürfe flüchten kann?

Das „Freischwimmer“-Festival für junges Theater, das in die dritte Runde geht und jetzt auf Kampnagel Hamburg gastiert, stellt diese Frage neu und hat sich den Titel „Zurück“ gegeben. Zurück in die Zukunft reisen hier sechs Performances, die die Berliner Sophiensaele, Kampnagel, das Düsseldorfer FFT und das Zürcher Theaterhaus Gessnerallee aus 120 Bewerbungen ausgewählt haben.

Keine gänzlich neue Idee, ist die Abrechnung mit der RAF, doch kaum verdaut und die Wehmut in Richtung Wirtschaftswunder-50er noch virulent. Einen weiteren Versuch war es den Organisatoren aber wert – zumal einige der diesjährigen Stücke gängige Erwartungen an engagiertes Nachwuchstheater bewusst enttäuschen.

„Plutos – Gott des Geldes“ heißt das Auftaktstück unter Regie von Katja Langenbach, die sich konträrer Ingredienzien bedient: Aristophanes’ Komödie „Plutos“ hat sie mit Zitaten moderner Wirtschaftsvertreter vermengt, die über die optimale Verteilung des Geldes debattieren. Denn der antike Chremylos möchte die Rechtschaffenen reich und die Schurken arm machen. Doch wer sind die Schurken? Katja Langenbach hat sie gesucht – und gefunden: Unternehmensberater hat sie zu Geld und Globalisierung befragt und ihre Antworten – in Form eines kommentierenden griechischen Chors – in den antiken Stoff hineingestellt.

„Mich hat interessiert, wie die, die im Reich des Geldes sitzen, sich dem Thema nähern“, sagt die Regisseurin. „Wie die, die als Schurken gelten, mit diesem Vorwurf umgehen und wie sie argumentieren.“ Kapitalismuskritik, die man gemeinhin vom Theater erwarte, habe sie nicht üben wollen, sondern sie sei „erstmal affirmativ“ an das Thema herangegangen. Ein streitbarer Ansatz. Langenbach nennt es „den Zuschauer mündig machen“.

Einen Wettstreit zweier Entwürfe zur gerechten Geldverteilung hat sie so inszeniert – in einem Stück, in dessen Verlauf die Unternehmensberater der Globalisierung als Entwicklungshilfe das Wort reden. „Wenn in Entwicklungsländern Jobs geschaffen werden, steigt – sehr langfristig – das Lebensniveau auf diesem Planeten, sagen die“, so Langenbach. „Auch, dass Gleichheit kein Wert sei.“ Wie das? „Sie argumentieren mit dem Vater, der drei Kinder mit unterschiedlichen Bedürfnissen hat. Soll er alle mit der gleichen Summe Geldes fördern? Ist das gerecht?“

„Die ganze Ideologiedebatte“ werde hier aufgebrochen, sagt Langenbach und weigert sich, die Unternehmensberater als ethikfreie Wesen zu bezeichnen. „Die haben ihre eigene Vorstellung von Gerechtigkeit und Moral. Sie sehen bestimmte Facetten der Globalisierung durchaus kritisch.“ Spätestens, wenn es sie selbst betreffe: „Sie sagen, dass auch sie selbst unter der zunehmenden Transparenz, unter der Rationalisierung und dem Tempo leiden, das die Globalisierung mit sich bringt.“ Deren Motor eben diese Berater sind. „Ja, schon,“ sagt Langenbach. Aber deutlich Position beziehen möchte sie im Gespräch nicht. Obwohl sie sich, wenn man insistiert, „durchaus eher als Chremylos denn als Wirtschaftsvertreterin“ sähe, wenn es darauf ankäme. „Ein bisschen Nostalgie steckt wohl in jedem von uns.“

Ein Satz, den auch Alexander Karschnia unterschreiben würde, Dramaturg des zweiten zentralen Stücks der „Freischwimmer“ – „little red (play)“. Sein Thema: die kommunistische Utopie und ihr Verblassen – sowie das Schweigen der einstigen Agitatoren. Interview mit west und ostdeutschen Kommunisten hat das Team um Regisseurin Nicola Nord im Vorfeld geführt. Fragen nach dem im Realsozialismus stets avisierten Jahr 2000 gestellt, in dem sich die Pioniere der sozialistischen Länder Europas an der Weltzeituhr des Alexanderplatzes treffen wollten. Nach dem gefragt, was von den Idealen übrig blieb – und bemerkenswert wenig Antworten bekommen.

„Kaum jemand scheint dieses Thema verarbeitet zu haben. Kaum ein ehemals – und heute – überzeugter Kommunist mag die einstige Utopie und das Scheitern des Realsozialismus zusammenbringen“, sagt Karschnia. „Dies ist ein Thema, das auch in der wissenschaftlichen Literatur erstaunlich unerforscht ist.“ Da sei eine große Sprachlosigkeit ausgebrochen.

Um ihr entgegenzuwirken, hat das Kollektiv um Nicola Nord Texte montiert, die Reflexionen von Brecht bis zum persönlichen Verhältnis der Akteure zur Utopie enthalten. „Es ist ein surreales Stück, das Utopien und die Entwürfe ihrer Gegner reflektiert. Geeignet schien uns hier unter anderem die Interviewform, die sowohl an die stalinistischen Schauprozesse als auch die McCarty-Kommission zur Aufdeckung antiamerikanischer Umtriebe erinnert.“

Ausgangspunkt des Stücks war die Biographie von Regisseurin Nicola Nord, die in der DDR aufwuchs und 14 war, als die Mauer fiel. „Sie hat den Sozialismus als Kinderzeit erlebt und erzählt, dass auch in ihrer Familie der Verlust dieser Utopie nie diskutiert wurde.“ Da bleiben nur Erinnerung an sozialistische Rituale und Symbole, die einst große Versprechen bargen.

Einige von ihnen hat der Dramaturg in das Stück hineingenommen – etwa die Überreichung eines goldenen Feuerzeugs durch ein junges Mädchen an Honecker; der Akt war als Ehre gedacht. Oder das rote Pionier-Halstuch, dessen Knoten für Frieden und die Freundschaft aller Pioniere stand. „Allzu anekdotisch wollten wir nicht werden“, so Karschnia. aber der Versuchung, eine Sputnik auf die Bühne zu bauen – Symbol der Hoffnung auf den dereinstigen Sieg des Realsozialismus – hat er nicht widerstanden.

Die Kluft zwischen Utopie und Realsozialismus schließen wird das Stück jedoch nicht. „Das ist nicht unser Ziel. Wir haben nach den zukunftsweisenden Element der vergangenen Utopie gesucht. Aber wir wollten nicht das Scheitern des Realsozialismus erforschen. Uns interessiert die einstige Leuchtkraft von Ideen, Ritualen und Symbolen, nicht ihre reale Wirkung.“ Ein Ansatz, der theoretisch konsequent ist – tatsächlich aber inkonsequent, da Utopien letztlich auf Verwirklichung zielen. Und insofern Abbild des Dilemmas real existierender Kommunisten. Und keineswegs das Ende der Debatte. Sondern ihre Eröffnung.

Freischwimmer-Festival: 20.–28. 10., Kampnagel Hamburg. Präsentiert werden: „Plutos – Gott des Geldes“; „little red (play)“; „Was wusste schon das Wasser vom Abschied und vom Weh“; „Past is in front of ego“; „Warten auf Wunder“; „Live tonight!“. Info unter www.kampnagel.de